Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
Victoria gelehrt hat, aber es war wie ein Spiel. Auch als wir wussten, dass es nicht nur Spaß war, war es für uns ein großes Abenteuer.«
Sie streichelt über die glatte Oberfläche des Steins und plötzlich scheint die ganze Lichtung erfüllt zu sein, von ihren Erinnerungen, ihrem gemeinsamen Lachen, von all diesen geheimnisvollen, nutzlosen Ritualen, den gekicherten Zaubersprüchen in Reimform, die keinerlei Bedeutung hatten. Dazwischen schiebt sich das Bild einer hoch konzentrierten Emma, die ernsthaft das Gedankenlesen, das Gedankenspiegeln und das Gedankenumkehren übt.
»Wir hatten sogar Morti mit einem Liebeszauber belegt«, sagt sie, während sie aufsteht, und muss bei dem Gedanken daran lächeln. »Hat aber nichts gefruchtet …«
Wir lachen nicht, während sie sich einmal im Kreis dreht, die Arme nach oben reckt und die Stimmung in sich aufnimmt. Ohne uns zu beachten, geht sie den Weg weiter zum Wasserturm.
Sie werden uns nichts tun, wispert es in mir, nicht jetzt. Aber das Gefühl von Bedrohung und Angst setzt sich auf meine Brust wie ein großer, schwerer Fels.
»Wir sollten umkehren«, sagt Dawna ruhig, doch Emma geht weiter. Ihr werdet sie nicht schützen können, höre ich die Stimme der Oberin in meinem Ohr. Was, wenn hinter der nächsten Wegbiegung eine Kohorte Engel wartet? Sind das die Erinnerungen wert?
»Ich habe so lange gewartet. Ich habe es so lange vermisst. All die Tage. All die Nächte. Ich habe mich daran geklammert, an jede Erinnerung, die schönen und die schmerzhaften«, flüstert Emma und geht mit schnellen Schritten weiter, als hätte sie Angst, dass wir sie aufhalten könnten. »Sie haben mich getragen, durch all die schlaflosen Nächte und all die Jahre der Einsamkeit. Und jetzt werde ich sie noch einmal sehen, all die Plätze.« Das »Einmal« ätzt sich wie Säure in mein Herz.
Je näher wir dem Wasserturm kommen, desto langsamer werden meine Schritte. Er taucht so unvermittelt vor uns auf, dass ich stehen bleibe und Dawna in mich hineinläuft.
»Hierher zu gehen war uns strengstens verboten«, sagt Emma und legt ihren Kopf in den Nacken. »Bis zum Feenstein, weiter nicht. ›Ein schlechter Ort‹, hat meine Mutter immer gesagt. ›Meidet diesen schlechten Ort.‹«
Sie stemmt ihre Hände in die Hüften und verengt ihre Augen. »Wir waren trotzdem ständig hier«, sagt sie so leise, dass ich sie kaum verstehe.
Ein Rauschen füllt den Wasserturm aus, ein wütendes Flattern, ein Zischen und Brennen. Unruhig dreht sich Dawna im Kreis, sucht den Himmel nach etwas Verdächtigem ab.
»Es war nicht nur eine Mutprobe, es war, als würden wir die Gefahr spüren wollen. Als wäre das die angemessene Vorbereitung.«
Ein ferner Schrei lässt uns alle zusammenzucken. Wir heben alle unseren Blick und sehen eine dunkle schmale Gestalt auf der Spitze des Wasserturms stehen, die Arme ausgebreitet. Der Ruf hallt zornig über die Lichtung, peitscht über die Wipfel der Bäume.
»Sie ist zornig«, sagt Emma leise und ohne Furcht. »Und das ist gut so.«
»Was meinst du damit?«, frage ich leise.
Lilli-This Anblick erfüllt mich mit stillem Schrecken, es ist wie eine Ankündigung, der Auftakt für das, was geschehen wird.
Emma dreht sich zu uns um, plötzlich ist ihr Gesichtsausdruck nicht mehr heiter, sondern ernst. Sie sieht uns beide eindringlich an.
»Ernestine und Victoria haben sich in dem Jahr, als ich sechzehn Jahre alt war, Tag und Nacht mit der Prophezeiung beschäftigt. Ich hatte nicht die Energie dazu, für mich war das alles ein Buch mit sieben Siegeln. Jetzt bin ich die Einzige, die von ihren Gesprächen berichten kann. Ich bin die Einzige, die überlebt hat bis zum heutigen Tag.«
Mein Blick schweift immer wieder zum Wasserturm, der Anblick der wütenden Lilli-Thi zieht mich an und macht mir gleichzeitig Angst.
»Die letzten Tage habe ich viel darüber nachgedacht, was Marie Esperance mir erzählte. Von all den Berechnungen, von all dem Wissen, von all den großartigen Frauen im Orden. Dem Zusammenhalt, der Bedeutung des Ordensjahres und des ganzen Wissens, das man in diesem Jahr aufnimmt wie ein Schwamm … Wäre ich nur nicht so lange krank gewesen – vielleicht wären meine Gedanken dann auch in eine andere Richtung gegangen.«
»Richtung?«, wiederholt Dawna und ihr Blick ist fasziniert auf die tobende Lilli-Thi gerichtet.
»Man soll keine Zweifel haben«, sagt sie ruhig. »Aber es ist auch nicht richtig, unbeirrt den vorgeschriebenen Weg zu
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