Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
besonnene Eva? Woher nahm sie diese Kraft, sich ihr entgegenzustellen? Das Rauschen der Blätter in den Pappeln dröhnt in ihren Ohren, aber noch lauter dröhnen die Stimmen der Frauen. Sie sucht sie mit den Augen, die ältere der beiden Mädchen, die, die sie verletzt hat, an die sie beinahe ihre Flügel verloren hätte. Noch einmal umkreist sie den Turm, dann schraubt sie sich immer höher hinauf, und auch wenn es heller Tag ist, die Nacht klebt an ihrem Gefieder.
24
Dawna
E mma streicht mir kurz über die Wange, bevor sie sich umdreht und mit Indie den Trampelpfad zurück nach Whistling Wing geht.
»Ich will ein bisschen alleine sein.«
Sie nickt, als könnte sie mich genau verstehen. Weit über uns kreist immer noch Lilli-Thi. Von hier unten sieht sie aus wie ein großer, schlanker Raubvogel. Langsam gehe ich hinunter zum See. Unser Badeplatz. Leer und still ist es hier. Ich vermisse Indies Lachen, wenn sie ins Wasser läuft, untertaucht und prustend wieder hochkommt, über und über voller kleiner Wasserpflanzen. Es ist, als wäre dies alles nur ein Traum, den man im Morgengrauen vergessen hat, aber man wundert sich, weil man mit einem Lächeln im Gesicht aufwacht.
Wie im letzten Sommer setze ich mich ans Ufer und streife die Schuhe ab, vorsichtig teste ich die Temperatur des Wassers, es ist kühl, es braucht noch einige heiße Tage, bis es warm genug zum Baden ist. Tage, die wir vielleicht nicht mehr erleben werden. Ich muss an das denken, was Emma uns gesagt hat, dass die Prophezeiung neu gedeutet werden muss. Langsam glaube ich, dass die Prophezeiung auf hundert verschiedene Arten interpretiert werden kann. Und wir haben keine Zeit mehr. Ich lasse mich zurück ins Gras sinken und suche den Himmel nach Lilli-Thi ab, doch nun ist sie verschwunden. Wolken treiben über mir, bauchig, als könnten sie Regen bringen.
… Doch seid klug und deutet die Zeichen, die eine muss wachen, sie darf nicht weichen, es ist an ihr, es zu erkennen, das Böse mutig beim Namen zu nennen. Zu wissen, dass alles in ihrer Hand, die Schwester, die Töchter, das ganze Land …
Hatte Lucille St. Fleurs tatsächlich Victoria damit angesprochen? Welcher Absatz ließ Victoria erkennen, dass sie es sein musste? Erkannte sie sich, als die Wölfe ins Spiel kamen, weil sie selbst einen Wolf liebte? Doch nicht nur Victoria wird angesprochen. Die Wechsel sind schnell und ohne Erkennungszeichen.
… Sie hat den Mut, sich von allem zu lösen, sie verbindet sich mit der Kraft des Bösen. Aus dieser Verbindung gehen hervor, die, die schließen das Engelstor. Die mächtigsten Hüterinnen, die jemals geboren an keinem von vielen Engelstoren …
Damit muss Granny gemeint sein. Sie wusste von Victoria, was passieren würde, sie wusste, dass ihre Tochter Vic die Kinder der Dunklen gebären würde. Indie und mich.
Sie sorgte dafür, dass Mum den Dunklen traf und sich in ihn verliebte, sie löste sich vom Orden, sie widersetze sich den Regeln, obwohl es ein scheinbar hoffnungsloses Unterfangen war. Dann springt der Text zurück in Victorias Zeit. Sie wird den Vertrag erzwingen, den Vertrag mit den Wölfen.
Die Sonne wandert über den Himmel und ich lege mir den Arm über die Augen, so hell ist es. Das Plätschern des Wassers verbindet sich mit meinen Gedanken. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander.
… Ihre Ahnin wird den Vertrag erzwingen, das ist nur eines von fünf Dingen. Gegen Zweifler wird sie unbeugsam sein, furchtlos wahren Täuschung und Schein. Geduldig wird sie die Töchter lehren, nie wird ihr Herz einen Liebsten begehren …
Dieser Absatz trifft auf Victoria und Granny gleichermaßen zu. Beide waren unbeugsam, gemeinsam heckten sie den Plan aus, in dem sie Lilli-Thi und die Engel mit Emmas Tod täuschten. Beide hielten sich vom Orden fern und lehrten ihre Töchter sowie deren Töchter, was sie wissen mussten. Und beide hatten nie geliebt. Aber nein. Beide liebten einen Wolf und beide mussten ihn gehen lassen.
… Die Schwester und Töchter weit fortgeschickt, sie nie mehr ihr geliebtes Antlitz erblickt, einsam wird sie finden den Tod, die Töchter überlässt sie der Angst und der Not …
Wie konnte Granny nur über so viele Jahre an ihrem Plan festhalten, wenn sie doch wusste, dass sie das Ende nicht mehr erleben würde, wenn sie wusste, dass sie alle, die sie liebte, nie mehr wiedersehen würde? Dieser Gedanke ist unerträglich und wird auch nur durch das Wissen etwas gemildert, dass sie Diego um sich
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