Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
wichtiger sein, als sie zu schützen? Sie, die uns hätte einweihen und initiieren können?
Er antwortet darauf nicht, er scheint über meine Frage beunruhigt, denn seine Aufmerksamkeit gilt wieder der Straße vor dem Laden. Mir wird klar, dass er mir auch nicht antworten wird. Der Grund kann nur sein, dass er die dunklen Mächte nicht anziehen will. Er muss jemand anderen geschützt haben, jemand, dessen Namen er nicht denken darf, nicht sagen darf, nicht fühlen darf. Er muss diesen Jemand auch jetzt noch schützen, auch wenn er gerade in New Corbie ist.
Ich schließe meine Augen. Seine Hände liegen noch immer schwer auf meinen Schultern, die Wärme sickert in meinen Körper. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich direkt in die seinen.
»Können wir es schaffen?«, wispere ich.
Er nickt, aber er lächelt nicht dabei.
»Ihr müsst kämpfen, genau wie es Granny getan hat«, flüstert er. »Ihr müsst wissen, dass ihr stärker als eure Granny und Emma seid. Die Zeichen stehen gut. Wenn ihr mit all eurer Kraft und all eurem Willen den Kampf aufnehmt, habt ihr eine Chance. Nicht nur das Böse abzuwenden, nein, sogar das Gute gewinnen zu lassen.«
Seine Worte hallen in meinem Kopf, vermischen sich mit der Stimme von Dusk. »Der Orden kennt keine Gnade. Er kennt nur seine Bestimmung. Sie werden die Mädchen opfern …«
»Sch«, sagt Diego und zieht mich wieder in seine Umarmung.
»Stimmt es, dass sie uns töten werden?« Wenn sie meinen, wir könnten es nicht schaffen. Wenn sie unsere Aufgabe übernehmen wollen.
Sein Schweigen an meinem Ohr hört sich bedrohlich an.
»Ihr müsst es ihnen sagen«, sagt er so leise, dass ich es kaum verstehe. »Sie müssen wissen …« Er spricht nicht weiter.
»Ich muss wissen, ob sie vertrauenswürdig sind«, sagt Dusks Stimme.
»Die zwei Hüterinnen müssen wissen, dass der Tag naht, an dem eure Bestimmung in Erfüllung geht«, fährt Diego fort. »Der Tag, an dem ihr eure vollen Kräfte erlangen werdet, der Tag an dem ihr gezeichnet werdet.«
In meiner Brust kämpfen Verzweiflung und Hoffnung. Können wir diese Erwartungen erfüllen?
Wie im Zeitraffer laufen der Sommer und der Herbst vor meinem inneren Auge vorbei, die Erinnerungen huschen durch meine Gedanken. Grannys Tod. Shantanis Suche nach uns, die in Milwaukee endete. Die von Shantani gesteuerte Entscheidung Mums, nach Whistling Wing zu gehen. Sam und Lilli-Thi, die in New Corbie auf uns warteten. Und Gabe.
»Wenn sie das wissen …«, fährt er fort. Habt ihr eine Chance. »Wenn sie nicht wissen, dass es jemanden gibt, der euch zeichnen kann, werden sie euch töten.«
Schon wieder sieht er zum Fenster. Man kann nichts erkennen. Aber jeder, der da draußen steht, kann uns perfekt sehen. Das Problem mit Kat und Miss A. ist vermutlich das geringste von allen.
»Du musst mir helfen«, sage ich in normaler Lautstärke, während ich mich aus seiner Umarmung winde. »Ich hoffe, dass du es weißt …«
Das Blatt mit den Koordinaten knistert, als ich es zusammengeknüllt aus meiner Hosentasche ziehe. Ich lege es auf den riesigen, leeren Schreibtisch und streiche es glatt.
»Ich komme mit diesen Blättern nicht weiter. Ich weiß, was die Zahlen hinter dem chinesischen Schriftzeichen bedeuten …«, erkläre ich ihm und zeige auf die erste Zeile. »Das hier bedeutet …«
Diego zieht scharf die Luft ein und Angst legt sich über meine Brust.
»Du hast es«, flüstert er.
Ich drehe mich zu ihm und sehe ihn fragend an.
»Lilli-Thi sucht die Blätter – schon seit Tagen.« Beschwörend sieht er mich an. »Du musst auf dich aufpassen.«
»Was bedeuten sie denn?«, will ich wissen. »Wieso sucht sie sie? Was für einen Sinn haben diese Zahlen? «
Er schüttelt den Kopf, während er sich für ein paar Sekunden die Zahlenreihen ansieht, kneift er die Augen zusammen. »Ich habe keine Ahnung.«
In meinem Kopf setzt sich ein fieser Schmerz fest, ich meine, das dumpfe Grollen eines Motorrads zu hören.
»Das sind Koordinatenpaare«, erkläre ich ihm, vor meinen Augen beginnt es zu flimmern. »Aber die Zahlen hier und hier…die kann ich mir einfach nicht erklären.«
Mit einem Satz ist Diego am Lichtschalter und wir sind von plötzlicher Dunkelheit umgeben.
»Diego?«, flüstere ich unsicher.
»Scht«, sagt er leise direkt neben mir.
Wir bewegen uns nicht, er packt mich an den Oberarmen und schiebt mich ein Stück weiter zum Hinterausgang.
»Was ist?«, frage ich leise. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die
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