Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
Meine Beine können sich bewegen, ich strecke mich, weiß, dass ich so ewig laufen könnte. Das Papier in meiner Hand knistert im Wind, fast wird es mir entrissen. Er läuft mir nicht nach, versuche ich, mich zu beruhigen. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt, dass er mich diesmal nicht entkommen lässt. Außerdem spüre ich, dass Diego aufholt, dass er schneller ist als ich. Dass es ihm Spaß macht, mit mir so zu laufen, so zu tun, als könnte ich ihm entkommen. Und ich werde es nicht schaffen können. Jedes Mal, wenn ich ein wenig schneller laufe, gibt er auch ein bisschen mehr Gas. Seine Schritte sind gleichmäßig hinter mir, ich scheine umgeben zu sein, von seinem Lachen, seiner Freude, mir hinterherzulaufen. Darauf hat er die ganze Zeit gewartet, da bin ich mir plötzlich sicher. Als hätte er die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet, wenn er hinter mir herläuft, mich zappeln, mich so lange laufen lässt, bis ich meine Beine nicht mehr spüre, bis mein Atem nicht mehr zu mir gehört, bis mein Körper funktioniert und mein Geist davonschwebt, irgendwohin. Irgendwohin.
Ich weiß nicht, wieso ich nicht aufhöre, wieso ich nicht stehen bleibe. Es hat keinen Zweck, ich merke an seinem Laufrhythmus, dass er viel schneller ist als ich, dass er mich nur nicht überholt, weil er es nicht will, nicht, weil er es nicht kann.
Diego Rosell, denke ich mir, während ich noch ein bisschen schneller laufe, der Name passt nicht zu dir. Du solltest nicht Rosell heißen. Der Name passt nicht zu dir. Plötzlich geschieht etwas Eigenartiges mit mir. Die kalte Luft nimmt mir nicht mehr den Atem, meine Muskeln scheinen unerschöpfliche Energien zu haben. Es ist kein Weglaufen mehr, es ist wie ein Spiel. Es ist ein »Ich bin schneller als du«-Spiel, obwohl ich weiß, dass ich nicht schneller bin als er. Er wird mich gewinnen lassen, wenn ich das will. Er läuft nur, weil es ihm Spaß macht.
Das viele Adrenalin in mir macht seltsame Dinge … plötzlich sehe ich wie in Zeitlupe Dinge aus der Vergangenheit, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe. Die Wüstenfläche hinter Grannys Haus, die Unendlichkeit der Wüste, das Gefühl, hineinzulaufen in die Hitze, die stacheligen Pflanzen an den Beinen zu spüren und immer schneller zu werden. Der Sommer, die Schwüle, die hohen Temperaturen, der Schweiß, der über meinen Körper läuft, der Staub, der sich mit dem Schweiß verbindet.
So werde ich auch jetzt immer schneller. Es ist ein berauschendes Gefühl, ich habe keine Angst mehr, ich kenne keine Müdigkeit. Und Diego klingt wie der Name eines lang vermissten Freundes.
Rosell ist nicht der Name, der zu dir passt, denke ich mir und im selben Moment höre ich, dass sich die Schritte hinter mir verändern. Es sind nicht mehr die kräftigen, schweren Boots, die im Schnee riesige Abdrücke hinterlassen. Erst hört es sich an, als würde mir niemand mehr folgen. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ganz leise sind sie zu hören, die leichtfüßigen und entspannten Galoppsprünge. Er wird mich jetzt überholen, er wird sich vor mich stellen und mich nicht weiterlaufen lassen. Er wird mir zwischen die Beine springen, bis ich rufe: »Nichts als Unsinn im Kopf, hör auf damit. Lass das!«
Aber er wird nicht damit aufhören. Er wird mich mit seinem lächelnden Gesicht ansehen und ich werde wissen, dass Rosell nicht der Name ist, den Granny ihm gegeben hat.
De la Vega, hat sie immer gesagt. Diego de la Vega.
Pass mir auf die Mädchen auf.
Im nächsten Moment stolpere ich über ihn, wie früher ist er mir zwischen die Beine gesprungen und ich falle zu Boden. Er hechelt, sieht mich mit seinem lächelnden Gesicht an.
Der Wüstenhund.
46° 59’ 51,086’ N, 110° 57’ 34,29’ W
Mount Monarch
D iego, denkt sie zärtlich.
Sein breiter Kopf mit dem lachenden Gesicht spiegelt sich in der kleinen Fensterscheibe des Wagens. Sein Gesicht und das Gesicht des Mädchens, Indie. So deutlich hat sie das Mädchen in ihren Träumen nie gesehen und jetzt fühlt es sich an, als würde sie sich selbst ansehen, ihr eigenes Bild, von Eisblumen umrahmt, ein jüngeres Bild, schon vor vielen Jahren verblasst. Sie haucht auf die Scheibe und wischt darüber. Sie vermisst Diego. Die Runden, die sie gemeinsam um den See liefen, wobei die anderen Leute immer einen großen Bogen um sie und den Wolf schlugen. Sein Bild im Fensterglas ist so tröstlich, sosehr sie auch Indies Anblick beunruhigt. Werden die Mädchen durchhalten?
Seit die Frauen so wachsam
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