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Dark Bd. 1 - Prinz der Dunkelheit

Titel: Dark Bd. 1 - Prinz der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lawrence
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welches Leben sie führen. Sie haben nicht die Antworten, die du suchst!« Er sprach mit solcher Intensität, dass ich fast glaubte, ihm läge wirklich etwas an mir.
    Eine Gestalt kam aus der Zelle und musste sich durch die Tür ducken. Nie hatte ich einen so großen Mann gesehen. Er war noch größer als Sir Gerrant von der Tafelwache, größer als der Pferdebursche Shem, größer auch als die Ringer bei den Slawen.
    Der Mann näherte sich Lundist von hinten, ein wandelnder Berg.
    »Jorg, ich glaube, du verstehst nicht …« Ein dicker Arm unterbrach den Lehrer und warf ihn mit solcher Kraft zu Boden, dass ich selbst dann zusammengezuckt wäre, wenn er nicht eine Handvoll meines Haars mitgenommen hätte.
    Der Mann ragte vor mir auf, ein abscheulicher Riese in stinkenden Lumpen, mit langem verfilzten Haar. Seine Ausmaße hypnotisierten mich. Er streckte die Hand nach mir aus, und ich war zu langsam. Die Hand packte mich und konnte sich beinahe um meine Taille schließen. Er hob mich hoch, auf eine Höhe mit seinen Augen, und seine dreckige Mähne teilte sich, als er den Kopf bewegte und mich anstarrte.
    »Jesus, du bist wirklich ein hässlicher Kerl, eine Beleidigung für das Auge.« Ich wusste, dass er mich töten wollte, und deshalb sah ich keinen Sinn darin, taktvoll zu sein. »Kein Wunder, dass dich der König hinrichten will.«
    Selbst in der Anonymität der Zellen erklang nur zögerndes Lachen. Dies schien ein Mann zu sein, den man besser nicht verspottete. In seinem Gesicht gab es nichts Weißes, nur harte Linien, Narben und vorstehende Knochen unter rauer Haut. Er hob mich hoch, als wollte er mich wie ein Ei zu Boden werfen.
    »Nein!«
    Unter dem Arm des Riesen hinweg sah ich einen alten Mann und einen rothaarigen jungen – sie waren dem lebenden Berg aus der Zelle gefolgt und halfen dem Nubier auf die Beine.
    »Nein«, wiederholte der Nubier. »Ich schulde ihm ein Leben, Bruder Price. Und außerdem: Ohne ihn säßest du noch in der Zelle und könntest dich auf die Hinrichtung freuen.«
    Bruder Price warf mir einen Blick zu, der unpersönliche Bosheit zum Ausdruck brachte, und ließ mich einfach fallen, als existierte ich für ihn nicht mehr. »Lass sie alle frei«, knurrte er.
    Der Nubier gab die Schlüssel dem alten Mann. »Bruder Elban.« Dann näherte er sich mir. Lundist lag in der Nähe, mit der Stirn in einer größer werdenden Blutlache.
    »Die Götter haben dich geschickt, Junge, auf dass du mich vom Tisch befreist.« Der Nubier sah zu den Schellen und blickte dann auf Lundist hinab. »Du kommst jetzt mit den Brüdern. Wenn wir den Mann finden, den du tot möchtest, so töte ich ihn für dich. Vielleicht.«
    Ich kniff die Augen zusammen. Das »Vielleicht« gefiel mir nicht.
    Ich sah kurz auf Lundist hinab und wusste nicht, ob er noch atmete. Nur einen Schatten jener Schuld, die ich eigentlich empfinden sollte, berührte mich, wie ein Jucken dort, wo sich eine amputierte Gliedmaße befunden hatte, als wäre sie noch Teil des Körpers.
    Ich stand neben dem Nubier, mit Lundist zu meinen Füßen, und beobachtete, wie die Gesetzlosen ihre Kumpane freiließen. Ich starrte in die orangerote Glut der Kohlen und erinnerte mich.
    Ich erinnerte mich an eine Zeit, als ich in Lüge lebte. Ich lebte in einer Welt aus weichen Dingen, veränderlichen Wahrheiten, sanften Berührungen und falschem Lachen. Die Hand, die mich in jener Nacht aus der Kutsche gezogen hatte, aus der Wärme an der Seite meiner Mutter in Regen und Geschrei, jene Hand hatte mich durch eine Tür gezogen, durch die ich nicht zurückkehren konnte. Wir alle kommen durch diese Tür, aber die meisten von uns aus freiem Willen, und nach und nach. Die meisten von uns strecken erst vorsichtig den Kopf hindurch, um zu sehen, was sie auf der anderen Seite erwartet.
    In den Tagen nach Flucht und Krankheit beobachtete ich, wie meine alten Träume klein wurden und verkümmerten. Ich sah mein Leben als Kind am Baum gelb werden und fallen, als hätte ein strenger Winter den Herbst verjagt. Es war verblüffend zu erkennen, wie wenig mein Leben bedeutet hatte, wie klein und unwichtig die Höhlen und Kastelle gewesen waren, in denen William und ich in so festem Glauben gespielt hatten. Wie dumm und töricht erschienen mir unsere Spielzeuge ohne die lebhafte unschuldige Fantasie, die ihnen Leben verlieh.
    In jeder wachen Stunde fühlte ich einen Schmerz, der umso mehr wuchs, je öfter ich die Erinnerung in meiner Hand drehte. Und dann und wann kehrte ich zu ihm

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