dark canopy
nicht!«
»Theoretisch nicht«, verbesserte er mich.
Was dies in der Praxis bedeutete, war mir klar. Sobald keiner hinsah, würde geschossen werden. Ich drängte die anschwellende Verzweiflung zurück. Im fairen Kampf Mensch gegen Percent wäre ich heute als Siegerin hervorgegangen. Leider würde Neél kein zweites Mal solche Fehler machen. Das Chivvy allerdings sollte andere Voraussetzungen schaffen. Viele Percents gegen viele Menschen. Im Chaos, das zweifelsfrei entstehen würde, hatte ich vielleicht eine Chance. Vielleicht war mein Fluchtversuch doch nicht vergebens gewesen, denn jetzt wusste ich, woran ich war.
»Können wir gehen?«, fragte Neél. »Für heute ist es genug.« Er wandte sich ab und ging; erwartete, dass ich ihm folgte. Die lederne Leine hing aufgerollt an seinem Gürtel. Da fiel mir wieder ein, was Giran gesagt hatte.
So leicht mache ich es euch nicht.
Euch ...
Mein Blick haftete auf Neéls Nacken. Er ging langsam, sodass ich ihm trotz meiner Verletzungen ohne Probleme nachtrotten konnte. Ich erinnerte mich an seine Geste, als ich weggerannt war. Konnte es denkbar sein, dass er mich hatte laufen lassen wollen?
Aber warum erst nach dem Kampf? Wenn er mich loswerden wollte - und danach sah alles aus -, konnte er das einfacher haben. Und warum sollte Giran es verhindern wollen? Ich grübelte den ganzen Weg bis zum Stadttor, aber es ergab keinen Sinn.
»Joy?«, murmelte Neél, kurz bevor wir in Hörweite der Wachmänner kamen. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, dass er mich jetzt bei meinem Namen nannte.
»Hm«, erwiderte ich möglichst unverbindlich.
Er sah mich nicht an, sondern klappte den Kragen seiner Jacke bis übers Kinn hoch. Man sah die Bisswunde nun nicht mehr. Seine Stimme klang gedämpft, aber ich verstand ihn dennoch. »Du warst gut heute.«
16
»das schwöre ich dir gern, matthial.«
Es war Josh, der das am Leben hielt, was Matthial nun seinen Clan nannte. Ein Clan bestehend aus zwei Brüdern.
Josh beharrte auf sein Motto: Lass uns warten, was der nächste Tag uns bringt. Er wiederholte die alten Geschichten, die Laurencio ihnen beigebracht hatte, auf ihre Quintessenz herunterreduziert wie Gebete. Legenden, in denen Betteljungen zu Königen wurden und unter wilden Tieren aufgewachsene Waisen zu imperialen Herrschern. Sagen, in denen ein Einzelner gegen eine feindliche Übermacht bestand und siegte und ein anderer übers Wasser lief und aus einem Brot viele machte. Mit jedem Tag, der verrann, ging etwas von den Geschichten verloren, bis Josh bloß noch mit dünner Stimme die Enden vor sich hin brabbelte.
Für Matthial waren es nichts als Märchen. Er ließ sie seinen Bruder erzählen, um keinen Streit heraufzubeschwören und weil Josh mit ihnen die Angst zu regulieren versuchte, die ihn in den vergessenen Kanalisationstunneln verfolgte wie der allgegenwärtige Geruch nach Fäulnis. Er brauchte Josh und vor allem brauchte er dessen ewige Hoffnung, dass sich neue Wege auftun würden. Matthial suchte wie besessen nach solchen Wegen. Das Nichtstun zehrte an ihm. Seit Tagen schlief er kaum noch und das lag nicht allein daran, dass der Versorgungsraum, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, so kalt und feucht war, dass sogar der Hund Husten bekam.
Bis spät in die Nacht zeichnete Matthial im Licht einzelner Kerzen aussichtslose Schlachtpläne mit Kreidesteinen an die Tunnelwände, um sie wenig später mit schleimigem Wasser wieder abzuwaschen. Sie waren seit der Spaltung des Clans keiner Menschenseele begegnet. Ein eigenartiges Gefühl ... fast als gäbe es keine Menschen mehr. Sollten die Percents die Städter über Nacht auslöschen, würden sie es hier unten nie erfahren. Vielleicht würden sie irgendwann nach draußen gehen und feststellen, dass die Erde nicht länger existierte, dass es nur noch Bomberland gab und nichts anderes mehr, so weit ein Mann gehen konnte.
Nein, so konnten sie nicht überleben. Auf Dauer brauchten sie Kontakt zu anderen Menschen. Dennoch wollte keiner von ihnen Spuren hinterlassen, denen die Falschen folgen könnten.
Nur eine Zeichnung ließ Matthial bestehen: ein Kartensystem der Kanalisation, festgehalten an der Wand über der Matratze, auf der er sich ausruhte. Jeden Tag lief er die Gänge weiter ab und zeichnete neue Abzweigungen, die in Schwärze führten. Inzwischen war die Karte bereits so verästelt wie die Krone eines Baumes. Der eine oder andere Ausgang war markiert und an wenigen Stellen konnte Matthial bereits
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