Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
Drakar!»
49
Es regnete noch immer in Strömen. Aliyah, Sihana, Miro und Joash waren den ganzen Tag über wie Schlafwandler in der Hütte umhergegangen. Sie hatten kaum miteinander geredet. Das Frühstück stand noch immer unangerührt auf dem Tisch. Der Tee war längst kalt geworden. Sie hatten keinen Hunger. Sie hatten keinen Durst. Ihr Kummer war so stark, dass es ihnen beinahe das Herz zerriss. Fast den ganzen Nachmittag saß Sihana neben Miro in einer Ecke, während Miro einfach nur schweigend auf Ephrions leblosen Körper starrte. Sie hatten ihn auf die Holzbank gelegt und seinen Kopf auf ein Kissen gebettet. Joash hatte Aliyah lange Zeit in den Armen gehalten, und das Mädchen weinte sich an seiner Schulter aus. Auch Joash selbst rollten immer wieder Tränen über die Wangen. Andora saß in ihrem Schaukelstuhl und sagte den ganzen Tag kein Wort. Langsam brach die Dämmerung über dem Sumpf herein.
«Wir müssen ihn irgendwo begraben», sagte Joash plötzlich mit stockender Stimme in die beklemmende Stille hinein.
«Darum werde ich mich kümmern», versprach ihnen Andora mit melancholischer Stimme. «Morgen, sobald ihr aufgebrochen seid, bringe ich ihn an einen Ort, an dem er in Frieden ruhen kann.»
«Danke», sagte Aliyah.
Sie verharrten einen Moment in andächtigem Schweigen. Irgendwie hofften sie noch immer, dass Ephrion plötzlich die Augen aufschlagen und wieder lebendig werden würde. Aber natürlich geschah nichts dergleichen. Ephrion würde nicht mehr aufwachen, so sehr sie es sich auch wünschten.
«Ihr solltet etwas essen», ermutigte Andora sie. Die Jugendlichen setzten sich an den Tisch, und das Essen belebte ihren Geist. Dann ergriff Sihana das Wort und stellte die Frage, die jedem heimlich auf der Zunge lag.
«Wie ist eigentlich das Brandmal in seine Hand gekommen?»
«Das Zeichen der Propheten», sang Andora. Der Schaukelstuhl drehte sich, und die alte Frau mit dem schneeweißen Haar lächelte die Jugendlichen gütig an. «Es erscheint bei jedem Propheten, der von ganzem Herzen und mit ganzer Hingabe seinem Ruf folgt – so wie Ephrion es getan hat.»
«Ephrion war … ein Prophet?», fragte Miro ungläubig.
«Wusstet ihr das nicht?», sagte Andora. «Ihr alle seid Propheten.»
«Wir? Propheten?», wiederholte Miro skeptisch. «Das glaube ich nicht.»
«Ich bin jedenfalls keiner», stellte Sihana fest.
«Auch wenn es euch schwerfällt, es zu glauben», sagte Andora und sah jeden von ihnen an, auch Sihana. «Ihr seid Propheten.»
«Ich auch?», fragte Sihana verwundert.
«Und warum haben wir kein Brandmal?», gab Aliyah zu bedenken.
«Das Brandmal ist nur ein äußeres Zeichen, ein Siegel eurer inneren Überzeugung. Es erscheint nur bei denen, die dafür bereit sind; nur bei denen, die glauben.» Sie machte eine Pause, um den Jugendlichen Zeit zu geben, ihre Worte zu verarbeiten.
«Ihr und ich», fuhr sie fort, «wir sind vom selben Schlag. Wir alle haben außerordentliche Gaben, die uns geschenkt wurden, um unseren Auftrag in dieser Welt zu erfüllen. Einige von uns können Stöcke in Schlangen verwandeln, andere Gedanken lesen, wieder andere sind in der Lage, übers Wasser zu gehen, sich unsichtbar zu machen oder einen Blick in die Zukunft zu tun. Es gibt welche, die haben die Gabe, Menschen zu heilen, so wie Ephrion es konnte. Es gibt Propheten, die fähig sind, ihre Gestalt zu verändern, so wie Mutter, oder die sich in Tiere verwandeln können. Einige können durchs Feuer gehen, ohne sich zu verbrennen, andere können die Zeit anhalten, durch verschlossene Türen spazieren oder von einem Ort zum andern reisen, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Die Liste der Gaben ist unendlich lang, die Vielfalt unendlich groß. Und es gibt einen, der alle Gaben in sich vereint. Alle Gaben kommen von ihm, und er gibt sie, wem er will. Er ist es, der uns zusammenhält, und nur durch ihn sind wir, was wir sind.»
«Von wem redet Ihr?», fragte Sihana. Ihr war auf einmal ganz warm ums Herz.
«Sein Name ist geheimnisvoll und voller Mysterien», antwortete ihr Andora. «Drakar der Erste hat es unter Todesstrafe verboten, ihn je wieder auszusprechen. Er wollte jegliche Erinnerung an den wahren König Shaírias aus den Köpfen der Menschen verbannen. Er ahnte wohl, welche Kraft allein in seinem Namen verborgen ist, seitdem er vor dreiunddreißig Jahren auf unerklärliche Weise aus Dark City verschwand. Auch wir Propheten haben seinen Namen seit jenem Tag nur noch rückwärts ausgesprochen:
Weitere Kostenlose Bücher