Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
Prophet.»
«Lest, Miro!» Ihre Stimme klang herausfordernd, und Miro war so überrascht, dass er das Buch der Prophetie automatisch zu sich hinzog wie ein kleiner Junge, der sich nach erfolglosem Wutausbruch doch dazu durchringt, die Suppe zu essen, die ihm die Mutter vorgesetzt hat. Zögernd schlug er den Lederdeckel auf und begann wahllos in dem Buch zu blättern. Sihana und Joash sahen ihm dabei gespannt zu. Aliyah rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Sogar Nayati hob neugierig den Kopf und trottete zum Tisch, wo er sich zwischen Aliyah und Miro hinsetzte. Miro ließ seine Finger über die verschnörkelten Zeichen und Symbole gleiten. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie bedeuteten.
«Tut mir leid», sagte er. «Ich versteh wirklich nicht, was hier geschrieben steht.»
«Komm schon, Alter», ermunterte ihn Joash. «Sogar Aliyah hat in dem Buch gelesen. Und sie ist blind. Denk mal drüber nach.»
« Du hast darin gelesen?», fragte Sihana beeindruckt.
Aliyah winkte ab. «Es heißt, jeder Prophet wäre in der Lage, das Buch der Prophetie zu entschlüsseln. Wenn wir Propheten sind, dann kann nicht nur Miro darin lesen – dann kann es jeder von uns.»
Ich kann es nicht!, dachte Miro. Ich versteh kein Wort davon! Es hat keinen Zweck! Wer sieht, der braucht nicht zu glauben.
Miro hielt inne. Was hatte er da eben gedacht? Wie vom Donner gerührt starrte er auf die Seite, die er soeben aufgeschlagen hatte. Er hatte keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber obwohl die Schriftzeichen sich nicht verändert hatten, sprangen ihm auf einmal Worte und Sätze ins Auge. Er konnte sie lesen! Er wusste ihre Bedeutung! Seine Finger glitten über die Linien, und seine Hände wurden ganz heiß dabei. Völlig durcheinander und überwältigt zugleich, begann er laut zu lesen:
«Wer sieht, der braucht nicht zu glauben. Wer aber glaubt, der hält unbeirrt an dem fest, worauf er hofft und weiß, dass es sich erfüllen wird.»
Miro sah von dem Buch auf. Andora nickte ihm aufmunternd zu.
«Überzeugt?», meinte sie nur.
«Wie hast du das gemacht?», wunderte sich Sihana fasziniert.
«Ich … keine Ahnung», entgegnete Miro achselzuckend. «Ich sehe es einfach.»
«Ich wusste, dass du es kannst!», verkündete Aliyah, und ihr blaues und ihr grünes Auge leuchteten stolz.
«Bist dann wohl doch ein Prophet», war Joashs Kommentar.
«Lies weiter», bat ihn Sihana, stützte die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in ihre Hände. Interessiert hörte sie ihm zu, während er weiter aus dem Buch der Prophetie vorlas.
«Er kam zu uns, um uns das Licht zu bringen, doch wir nahmen ihn nicht auf. Er erwählte sich Propheten. Doch wir töteten sie und machten mit ihnen, was wir wollten. Wir warfen ihn in die Finsternis, aber er gab uns nicht auf. Die Insel wartet auf seine Lehre. Seine Worte sind wie ein Licht in der Nacht. Die Dunkelheit muss weichen, und das wahre Licht beginnt zu leuchten. Die Trauerzeit ist bald vorbei. Dann werden alle Bewohner wieder nach seinen Geboten leben. Er wird nicht ruhen, bis er auf der ganzen Insel für Recht gesorgt hat. Und sein Volk wird die Insel für immer besitzen. Bald, sehr bald wird dies alles geschehen. Darauf gibt er sein Wort. Die Zeit ist gekommen. Die Auserwählten finden ihren Weg. Öffnet eure Herzen, denn der König kehrt zurück.»
Er klappte das Buch zu, und seine Hände blieben eine Weile auf dem Ledereinband liegen. Die Worte, die er gelesen hatte, gruben sich tief in seine Gedanken ein. Er spürte ihre Kraft, und es kribbelte ihn bis in die Fingerspitzen. Ich bin ein Prophet.
Andora blickte die Jugendlichen der Reihe nach an. «Orenum assaíno velura», murmelte sie geheimnisvoll, und ihre Augen leuchteten auf. «Lang lebe der König.»
Sie griff unter ihr Kleid und holte das Fläschchen mit den Tränen des Lichts hervor. Augenblicklich wurde der Raum von einem strahlenden Schein erfüllt.
«Die Stunde der Auserwählten ist gekommen», sang die alte Frau, und ihre Stimme war erfüllt von Ehrfurcht und Stolz. «Er hat sie berufen, die Finsternis zu besiegen, und als Zeichen seines Sieges rüstet er sie aus mit den Tränen des Lichts.»
Sie nickte Miro zu, legte das Gefäß in seine Hände und hielt sie einen Moment umklammert, während sie Miro eindringlich ansah.
«Hütet sie gut. Ihr werdet sie brauchen. Wer die Tränen des Lichts sieht, weiß, in wessen Auftrag ihr gekommen seid. Sie werden euch ein Licht auf eurem gefährlichen Weg sein und ein Schutz vor
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