Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
ich es tun musste. Und so verließ ich das Mirin-Tal, meine Heimat, überquerte das Ysah-Gebirge und siedelte mich in der Malan-Hochebene an. Damals gab es noch keine Mauer. Und keinen Nebel. Und keine ewige Dämmerung.
Der Wolf winselte wehmütig. Die Gegend war – um es in einem einzigen Wort auszudrücken – wunderschön. Überall gab es grüne Wiesen und weite Kornfelder, Blumen in allen Farben und Formen, bunte Schmetterlinge, die fröhlich durch die Luft tanzten, frische Wasserquellen. Und darüber ein strahlend blauer Himmel und natürlich die Sonne, dieser riesige Feuerball, der – wie soll ich es dir erklären – so hell leuchtete, dass man nicht direkt hinsehen durfte, um nicht des Augenlichts beraubt zu werden. Am Morgen weckte mich die Sonne mit ihren warmen Strahlen. Nachmittags streunte ich durch die Wälder und Wiesen. Und abends hatte ich mein Lieblingsplätzchen auf einem großen Felsen. Von dort aus konnte ich zusehen, wie die Sonne glühend rot am Horizont unterging. Es war – ohne zu untertreiben – ein fantastisches Naturschauspiel. Und wenn dann der Mond herauskam und die Landschaft in seinen zauberhaften Silberglanz hüllte, stand ich auf und heulte mein Abendlied.
Ich freundete mich mit ein paar Propheten an, die in den Tempeln aus dem Buch der Prophetie vorlasen, und durch ihre Freundschaft fasste ich langsam wieder Mut für mein Leben. Ich hatte eine neue Familie gefunden, eine neue Heimat. Tja, und dann fiel der brennende Fels ins Meer …
Wie lange ist es her, seit du das Mirin-Tal verlassen hast?, wollte Miro wissen.
Achtzig Jahre.
Achtzig Jahre?, fragte Miro verwundert. Wie alt bist du denn?
Fünfhundertvierundvierzig und drei viertel Jahre, um exakt zu sein, antwortete der Wolf.
Miro hörte vor Verblüffung auf zu kauen. Wie bitte?!
Mirin-Wölfe können bis zu siebenhundert Jahre alt werden, mein Junge, klärte ihn Nayati auf. Aber das wissen die wenigsten. Ich habe einen Ururonkel, der ist sogar siebenhundertfünfzehn und zwei zwölftel Jahre alt geworden.
Wow, meinte Miro beeindruckt. Dann hast du ja noch hundertfünfundfünfzig und ein viertel Jahre vor dir bis zu deinem siebenhundertsten Jubiläum. Und sechzehn Jahre obendrauf, wenn du den Rekord deines Ururonkels brechen willst.
Es ist nicht von Wichtigkeit, wie alt ich werde, sagte Nayati. Es ist nur wichtig, was ich mit der Zeit anfange, die mir gegeben ist. Ich bin hier, um einen Auftrag zu erfüllen.
Und was ist dein Auftrag?, fragte Miro.
«Nayati? Wo bist du?», drang in diesem Moment Aliyahs Stimme zu ihnen herüber.
Wir unterhalten uns später weiter, mein Junge, sagte Nayati rasch, dann sprang er leichtfüßig vom Felsen und trottete getreulich zu Aliyah hinüber. Miro kaute nachdenklich auf seinem Fladenbrot herum und beobachtete, wie Aliyah Nayati den Kopf kraulte. Dann sah er, wie der weiße Wolf zu ihm hinüberblickte und ihm mit einem Auge verschmitzt zuzwinkerte. Diesmal wusste Miro, dass es eindeutig keine Sinnestäuschung war, und zwinkerte ihm schmunzelnd zurück. Langsam begann er an Nayati einen Narren zu fressen.
Ein paar Minuten später brachen sie auf. Sie folgten dem Fluss weiter am nördlichen Ufer und erreichten nach vier Meilen, genau wie die Frau gesagt hatte, ein Sträßchen, das einen sanften Hügel hinaufführte. Dort, so hatte die Frau gesagt, würden sie Einbein finden. Doch oben angekommen, fanden sie etwas ganz anderes: einen Friedhof!
54
Wie angewurzelt blieben Sihana, Miro, Joash, Aliyah und Nayati stehen. Obwohl es mitten am Tag war, wirkte der Friedhof durch die niemals endende Dämmerung unheimlich und gespenstisch. Ein paar schwarze Bäume mit langen Moosflechten, die wie riesige Spinnweben im Wind wehten, standen zwischen den Gräbern. Nebelschwaden hingen dicht über den Grabsteinen. Die Mauer um den Friedhof war fast vollständig mit allerlei Kletterpflanzen überwuchert. Das große eiserne Eingangstor war durchgerostet und unverschlossen. Es war grabesstill.
«Das darf doch nicht wahr sein», stöhnte Sihana. «Die Frau hat uns verschaukelt.»
«Wieso?», fragte Aliyah. «Was ist los?»
«Wir stehen vor einem Friedhof», informierte sie Miro.
«Nein», sagte Aliyah.
«Doch», bestätigte Joash. «Ey, ich hab gleich gewusst, dass mit der Frau etwas nicht stimmt. Im Ernst, Mann. Die Tante hat ‘ne Meise, ich sag’s euch.»
«Sie wollte uns so schnell wie möglich loswerden», pflichtete ihm Sihana bei. «Vielleicht dachte sie, wir wären Spione oder so
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