Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
verwandle dich bloß nicht in ein Monster. Du würdest uns alle umbringen.»
«Warum glaubt ihr bloß alle, dass ich das schwarze Schaf bin, ey?», sagte Joash mit saurer Miene. «Es könnte jeden von uns treffen.»
«Na ja, du hast immerhin auf der Straße gelebt», sagte Sihana achselzuckend. «Da hast du bestimmt viel Dunkles in dir angestaut.»
«Ach, meinst du? Ey, warte, bis die Sphonx aus dir herausspringen und uns mit ihrem Gekrächze zu Tode singen.»
Sihana sperrte empört den Mund auf und stemmte ihre Hände in die Seite, dass ihre Armspangen klimperten. «Wenn du noch ein Wort gegen die Sphonx sagst …»
«Dann was?», grinste Joash.
Nayati sprang mutig voraus, blieb stehen, sah zu den Jugendlichen zurück und bellte zweimal.
«Ist ja gut, wir kommen ja schon», seufzte Miro und näherte sich mit einem mulmigen Gefühl der ersten Baumreihe. Die andern folgten ihm, Aliyah und Sihana etwas zögerlich, Joash in gewohnter Kühnheit.
Der Wald verschluckte sie. Mit Nebelschleiern verhangen, erschien der Wald der Offenbarung beinahe mystisch. Algen, Moose und Flechten bedeckten die immerfeuchten Stämme und Äste. Es herrschte eine gedämpfte Stille in dem dunklen Wald. Riesige Brettwurzeln stützten mächtige Bäume mit über zwei Armspannen Durchmesser. Es gab Bäume, die innen hohl waren, andere waren mit großen Pilzen überwuchert, wieder andere sahen aus wie versteinerte Ungeheuer. Wurzeln wanden sich über den Boden wie gewaltige Schlangen, die sich im Kampf ineinander verbissen hatten. Spiralförmige Lianen und triefende Flechten hingen von den Ästen. Der unvergleichliche Gesang des Glasvogels durchbrach ab und zu das Schweigen des Waldes. Es hörte sich an, wie wenn jemand mit einem nassen Finger über den Rand eines Glases streicht.
Die Jugendlichen schritten voran und folgten dem weißen Wolf durch den Nebel. Ohne ihn hätten sie längst die Orientierung verloren. Sie sprachen kein Wort und konzentrierten sich einzig und allein darauf, möglichst rasch das andere Ende dieses kleinen, aber mysteriösen Waldes zu erreichen. Dabei wurden sie das eigenartige Gefühl nicht los, dass sie von allen Seiten beobachtet wurden. Der Wald schien auf der Lauer zu liegen wie ein Raubtier, das seine Beute fest im Visier hat. Er wartete auf sie. Er wartete auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.
Und dann geschah es. Und das Opfer war nicht etwa Joash, so wie alle gedacht hatten. Nein: Es war Aliyah!
Sieben Jahre zuvor …
«Beeil dich gefälligst, Aliyah!», krächzte Onkel Fingal aus dem Flur. «Ich will nicht, dass du schon an deinem ersten Schultag zu spät kommst! Und vergiss deinen Blindenstock nicht!»
Die neunjährige Aliyah hängte sich ihre Schultasche um und tastete sich mit ihrem Blindenstock durch die Küche zur Haustür. Ihr Onkel wartete bereits ungeduldig auf sie.
«Warum hat das so lange gedauert? Glaubst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als dich zu deiner neuen Schule zu begleiten? Damit das gleich klar ist: Den Nachhauseweg musst du alleine finden.»
«Ja, Sir», piepste Aliyah mit feinem Stimmchen. Dann folgte sie ihrem mürrischen Onkel auf die Straße hinaus. Sie musste sich Mühe geben, um mit ihm Schritt zu halten. Er nahm keinerlei Rücksicht auf ihre Blindheit, und den ganzen Weg über sagte er kein einziges Wort, um ihr die Angst vor der neuen Schule zu nehmen. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben. Am liebsten hätte sie sich im hintersten Winkel ihrer schäbigen Wohnung verkrochen, irgendwo, wo sie niemand hätte finden können, nicht einmal Onkel Fingal, der ihr das Leben schwermachte, wo er nur konnte. Er nannte sie Nichtsnutz, Hexe und dummes Ding. Er sagte, er verfluche den Tag, an dem sie als Baby in einem Korb vor der Haustür gelegen und seine Frau ihn überredet hatte, das Mädchen zu behalten. Und seitdem sie vor kurzem vollständig erblindet war, hasste er sie noch mehr.
Eine halbe Stunde gingen sie durch die Straßen von Dark City, und Aliyah versuchte sich die Strecke einzuprägen, damit sie sich auf dem Rückweg nicht verlaufen würde. Irgendwann hörte sie fröhliches Geplapper und Gekreische von Kindern und wusste, dass sie das Schulgelände erreicht hatten. Es wurde ihr ganz mulmig zumute. Obwohl sie die Kinder nicht sehen konnte, spürte sie, wie sie von allen Seiten angestarrt wurde.
«Guckt, eine Neue für die Krüppelklasse!», hörte sie einen Jungen flüstern, worauf dicht neben ihr mehrere Kinder kicherten. Am liebsten wäre Aliyah im
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