Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
davon ab, ob du die Zeichen rechtzeitig deuten kannst. Mehr kann ich dazu nicht sagen.»
Joash stand eine Weile grübelnd da und dachte angestrengt über das Geschehene nach. Dann murmelte er ein paar unverständliche Worte vor sich hin, schüttelte den Kopf und marschierte einfach davon. Die Jugendlichen und der Wolf trabten hinter ihm her.
Mangols Blick durchschnitt den Nebel. Aufrecht saß er im Sattel und zügelte sein Pferd. Der Ritter hatte graumeliertes Haar, ein breites, stoppeliges Kinn und tiefsitzende schwarze Augen. Seine Hände waren kräftig, sein Körper durchtrainiert wie der eines Zwanzigjährigen. Seine wachsamen Augen und Ohren nahmen jedes verdächtige Geräusch und jeden vorbeihuschenden Schatten wahr. Mangol war ein Mann, der keine Gefühle zeigte. Sein eiserner Blick hätte einen Vulkan gefrieren lassen können. Es wurde gemunkelt, durch seine Adern würde kein Blut fließen. Sondern Eis.
Der Ritter war weit über sechzig Jahre alt. Doch sein wirkliches Alter wusste niemand so genau. Er war dabei gewesen, als Drakar der Erste vor dreiunddreißig Jahren die Macht übernommen und König Arlo vom Thron gestürzt hatte. Unter seinem Kommando hatte die erste große Hexenverfolgung stattgefunden. Über siebzig Männer und Frauen wurden damals im Stadion gleichzeitig bei lebendigem Leibe verbrannt, und Mangol war es gewesen, der ihre Scheiterhaufen in Brand gesteckt hatte. Mangol war ein Krieger mit einem stählernen Willen, dem es nichts ausmachte, Menschen leiden – und sterben – zu sehen.
Er hatte das riesige Rohr, das über den Toten Fluss führte, als Erster erreicht. Ein paar spielende Kinder wollten einen Wolf gesehen haben. Einen weißen. Die Abdrücke in der Erde waren noch frisch. Mangols Augen glitzerten wie schwarzes Öl. Die Fährte würde sie direkt zu ihnen führen. Und wenn sie die ganze Nacht durchreiten müssten.
16
Zehn Jahre zuvor …
Seine dünnen Beinchen schlenkerten nervös hin und her. Miro konnte sich kaum stillhalten auf dem Stuhl. Der Achtjährige folgte mit seinen blauen Augen der Musterung der Wände und zählte die kleinen Vierecke des Bambusbodens. Er hatte sein feuerrotes Haar mit viel Gel zurückgekämmt und trug einen frisch gebügelten Anzug mit Krawatte. Dies war der größte Tag in seinem Leben. Es war weder sein Geburtstag noch eine Hexenverbrennung. Dies war der Tag, an dem der Richter entschied, was mit seiner Familie geschehen würde. Dies war der Tag, an dem sich entscheiden würde, wem er zugesprochen würde: seiner Mutter, seinem Vater, oder – wie er es sich sehnlichst wünschte – beiden.
Seine Mutter, Lordess Liliam, hatte das Anwesen schon vor Monaten verlassen, und Miro hatte sie seither erst zweimal gesehen. Einmal, als sie zurückkam, um all ihre persönlichen Sachen zu holen, und einmal, als sie ihn mit in ein sehr feines Restaurant nahm, wo drei verschiedene Gabeln neben dem Teller lagen. Während des Essens sagte sie die ganze Zeit, wie traurig sie sei und was für ein schlechter Vater und Ehemann Lord Jamiro wäre. Miro wollte das alles gar nicht hören, und das meiste, das sie sagte, verstand er sowieso nicht. Er hatte nie verstanden, warum sie sich so sehr beklagte. Also tat er, was er in solchen Situationen immer tat: Er verkroch sich in seine eigene Welt, die Welt der Zahlen und des Kombinierens.
«Hundertachtundsechzig», sagte er laut. Er hatte sechsundfünfzig Leute im Restaurant gezählt, jeder mit drei Gabeln.
Die große Uhr im Gerichtssaal zeigte elf Uhr sechsundzwanzig. Alle Anwesenden überragend, saß hinter einem hohen Tresen, der fast die ganze Saalbreite einnahm, der Richter in einer schwarzen Robe. Seine Haut war fast schwarz, er war wohlbeleibt, hatte graumeliertes Haar, viele Falten im Gesicht und trug eine dicke Brille. Über seinem Kopf an der Wand, fast bedrohlich groß, war das Wappen von Dark City an die Mauer gemalt. Es zeigte einen schwarzen, feuerspuckenden Drachen mit zwei gekreuzten Schwertern und mehreren Feuertropfen auf blutrotem Hintergrund. Dem immensen Tisch des Richters gegenüber auf der rechten Seite saßen Miro, sein Butler Whelof und der Anwalt seines Vaters, Sir Earlandmock. Miro kannte Sir Earlandmock nicht sehr gut und war froh, dass sein Butler dabei war. Sein Vater konnte nicht bei der Verhandlung dabei sein, weil ihm irgendeine wichtige Besprechung dazwischengekommen war, die sich unmöglich verschieben ließ. Sein Vater hatte eigentlich immer irgendwelche wichtigen Besprechungen, die
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