Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
Frage zu beantworten, wirbelte Aliyah jäh herum und packte den Burschen am Handgelenk. Ihr Griff war viel zu stark für ein so zierliches Wesen wie Aliyah. Verdutzt blickte Joash zu ihr herunter. Sie hatte so zielsicher zugepackt, wie es für eine Blinde schier nicht möglich war. Und dann schaute sie zu ihm hoch. Joash wusste nicht mehr, was er denken sollte. Das blinde Mädchen sah ihm direkt in die Augen.
«Tu es nicht!», hauchte es. Seine Stimme klang flehend und aufrichtig besorgt. «Tu es nicht, bei Shaíria! Nicht!»
Joash schüttelte den Kopf und grinste. «Alles in Ordnung mit dir, Kleine?»
Aliyah reagierte nicht. Sie wirkte abwesend, irgendwie seltsam. Ihre Stirn war ganz blass geworden. Ihr Atem wurde immer heftiger, und ihre Brust bebte im Takt der schweren Atemzüge. Nayati stellte sich neben sie und jaulte leise.
«Aliyah?», fragte Joash und schüttelte sie leicht. Aber sie krallte sich weiter eisern an seinem Arm fest und fixierte ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Sie war wie in Trance. Langsam kam ihm das Ganze doch ziemlich merkwürdig vor. «Was hat sie denn?»
«Mach dir keine Sorgen. Ist bloß eine ihrer Visionen», klärte ihn Ephrion seelenruhig auf.
«Wenn sie wieder zu sich kommt, kann sie sich an nichts mehr erinnern», fügte Miro hinzu.
«Ist so was wie ein sechster Sinn, weißt du», ergänzte Ephrion. «Sie kann in die Zukunft sehen. Cool, nicht?»
Joash fand es überhaupt nicht cool, wie Aliyah sich an ihm festklammerte und ihn anstarrte. Es machte ihn ganz nervös. Wie von einem elektrischen Schlag erfasst, sperrte das Mädchen plötzlich die Augen weit auf, und seine Lippen begannen zu beben, als es flüsterte:
«Rot. Ich sehe rot … Alles ist rot. Joash! Bitte nicht! JOASH!»
Ein erstickter Schrei drang aus ihrer Kehle. Dann verdrehte sie plötzlich die Augen und erschlaffte. Joash konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie kraftlos zusammenbrach. Er legte sie behutsam auf den Boden und fühlte ihre Stirn. Sie war eisig kalt. Nayati beugte sich über sie und leckte ihr winselnd das Gesicht. Joash betrachtete das Mädchen beunruhigt. Er warf Miro und Ephrion einen vorwurfsvollen Blick zu.
«Was habt ihr Aliyah gegeben? Euphória?»
Miro lachte auf. «Du glaubst, wir hätten ihr Drogen gegeben? Wir haben ihr überhaupt nichts gegeben!»
«Ja, alles klar, Mann», knurrte Joash, und es war deutlich herauszuhören, dass er ihm kein Wort glaubte.
Ephrion kniete neben Aliyah nieder und klopfte ihr sanft auf die Wange. «Aliyah? Komm schon, wach auf!»
Es dauerte ein paar Sekunden, die ihnen wie eine Ewigkeit erschienen. Dann öffnete Aliyah endlich die Augen und rang nach Luft, als hätte sie zu lange unter Wasser verbracht.
«Alles in Ordnung mit dir?», vergewisserte sich Joash und bettete ihren Kopf auf seine Knie.
Aliyah hielt sich an ihrem Wolf fest, der sich neben sie gelegt hatte, während sie mehrmals tief ein- und ausatmete und langsam wieder zu Kräften kam. «Es war eine Vision, nicht wahr?», piepste sie.
Joash sah sie kopfschüttelnd an. «Wenn du mich fragst: Du solltest die Finger von diesem Zeug lassen. Ich hab so was schon oft gesehen, und ich sage dir: Drogen sind nicht gut für dich.»
«Drogen?», fragte Aliyah verwirrt.
«Er meint, du hättest was genommen», kicherte Ephrion.
«Mach so was nicht wieder, ja?», warnte sie Joash und half ihr beim Aufstehen. «Du hast mir voll den Schock eingejagt, Kleine. Ganz im Ernst, ey.»
«Das wollte ich nicht», sagte Aliyah mit einem schwachen Lächeln. Sie fühlte sich immer noch etwas wackelig auf den Beinen. «Aber ich versichere dir, ich habe nichts genommen. Es passiert einfach mit mir. Ich kann die Visionen nicht beeinflussen. Jedenfalls weiß ich nicht, wie. Noch nicht.»
«Hmm», brummte Joash, noch immer nicht sehr überzeugt. «Was hast du eigentlich mit ‹rot› gemeint?»
«Rot?»
«Du hast gesagt, alles wäre rot oder so was. Und dann hast du meinen Namen gerufen.»
Aliyah zuckte nur die Achseln. «Ich kann mich überhaupt nicht erinnern.»
«Siehst du», warf Miro triumphierend dazwischen. «Das ist es, wovon ich sprach.»
Aliyah seufzte. «Es tut mir leid, Joash. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, noch kenne ich die Bedeutung davon. Ich habe zwar die Gabe, in die Zukunft zu sehen, aber ich kann immer nur Bruchstücke von dem erkennen, was geschehen wird. Es ist wie eingefrorene Bilder, aber der Zusammenhang fehlt.»
«Und was bringt das Ganze?»
«Das hängt
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