Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
gesagt. Wütend funkelte ihn sein kleiner Bruder an.
«Ich weine nicht!», kreischte er und lief dabei rot an. «Hau ab, du fette Tonne!»
Die letzten Wort waren wie Messerstiche mitten in Ephrions Seele. In der Schule nannten ihn fast alle Tonne, alle außer seinem besten Freund Ansgar, der ebenfalls ziemlich dick und genau wie er ein Außenseiter war. Egal, wo sich Ephrion aufhielt, es kam ihm so vor, als wäre er immer und überall jedem im Weg. Die Schüler tuschelten und kicherten, wenn er an ihnen vorbeilief. Kam er mittags in die Schulkantine, wurde er mit Sätzen begrüßt wie: «Achtung, die Tonne kommt!» Oder: «Verstopf den Gang nicht!» Oder: «Du verdeckst uns mit deinem fetten Hintern die Aussicht!» Und ähnlich hässliche Dinge …
Ephrion tat meistens, als würde er ihre fiesen Bemerkungen nicht hören, und schwieg einfach. Aber es schmerzte. Jeder einzelne Spruch verletzte ihn, und oft wünschte er sich, er wäre so schlank und gutaussehend wie alle andern. Dann würden sie sich nicht dauernd über ihn lustig machen. Dann müsste er sich nach Schulschluss nicht mehr in der Toilette verstecken, bis alle fort waren, damit er ungestört nach Hause gehen konnte. Er hasste es, wegen seines Körpergewichts keine Freunde zu haben und immer und überall herumgeschubst zu werden. Doch am meisten verletzte es ihn, die herablassenden Worte aus dem Mund seines kleinen Bruders zu hören. Ephrion liebte Nicolo, und er hätte alles für ihn getan. Und dennoch behandelte ihn sein kleiner Bruder oft wie ein Stück Dreck und nannte ihn Fettkloß und Schwabbelbauch, nur um ihn zu ärgern.
Wie jedes Mal schluckte Ephrion auch diesmal die Beleidigung, die ihm Nicolo ins Gesicht geworfen hatte, hinunter, und mit einem Blick auf den Hamster sagte er hilfsbereit:
«Ich kann ihm vielleicht helfen.»
«Mimi ist tot!», fauchte ihn Nicolo an, und es klang, als wäre es seine Schuld. «Wann verstehst du das endlich?» Schon wieder rollte ihm eine Träne übers Gesicht, und er wischte sie wütend weg. «Guck nicht so blöd! Was kümmert es dich? Lass mich alleine! Geh schon!»
Anstatt zu gehen, legte Ephrion die Schreibfeder beiseite und kniete sich neben seinem Bruder nieder. Er ertrug es nicht, Menschen leiden zu sehen, schon gar nicht seinen kleinen Bruder. Manchmal war sein Mitleid für andere so stark, dass er am eigenen Körper Schmerzen empfand. Er hatte sich schon immer gewünscht, Menschen helfen zu können, wusste aber nicht, wie. Seine Hände waren so klein, und er war nichts weiter als ein verstoßener, fettleibiger Junge, den niemand ernst nahm. Was sollte er schon bewirken?
Doch als er sieben Jahre alt war, hatte er eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Er konnte Schmetterlinge heilen. Zuerst hatte er gedacht, es wäre ein Zufall gewesen. Aber in den vergangenen Jahren hatte er es mindestens fünfmal getan. Wann immer er einen Schmetterling mit einem geknickten oder zerrissenen Flügel sah, nahm er das zarte Geschöpf in seine Hände, und auf wundersame Weise wurde das Tierchen geheilt. Natürlich hatte er niemandem etwas davon erzählt. Man hätte ihn bloß ausgelacht. Auch sein kleiner Bruder wusste nichts davon, und vielleicht überschätzte sich Ephrion auch ein wenig, wenn er dachte, er könne tatsächlich etwas für Nicolos Hamster tun. Aber seinem Bruder zuliebe musste er es einfach wagen.
«Darf ich Mimi kurz halten?», sagte er.
«Wieso?», fragte Nicolo bissig, während er den reglosen Hamster an sich drückte, als wolle er ihn nie mehr hergeben. «In deinen Speckhänden wird er auch nicht mehr lebendig.»
«Bitte», sagte Ephrion und streckte seine rechte Hand aus. «Nur ganz kurz.»
Zögernd reichte ihm Nicolo den Hamster und wartete mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, was sein großer Bruder jetzt machen würde. Ephrion streichelte Mimi sanft. Das kleine Tierchen war schon ganz steif.
«Ich sagte dir doch, er ist tot», sagte Nicolo gedrückt und musste sich furchtbar Mühe geben, seine Tränen zurückzuhalten.
Ephrion antwortete nicht. Stattdessen nahm er den Hamster vorsichtig zwischen beide Hände und begann sich zu konzentrieren. Vielleicht klappt es ja, dachte er, obwohl er selbst wusste, wie unsinnig das war. Der Hamster war tot. Mach dich nicht lächerlich, hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Nur weil du Schmetterlinge heilen kannst, glaubst du, du könntest einen toten Hamster wieder zum Leben erwecken? Für wen hältst du dich eigentlich?
Ephrion atmete tief
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