Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
konnte, spürte sie dennoch ihre schreckliche Gegenwart.
«Nicht», flehte sie heftig atmend, «bitte nicht!»
«Kommt zu mir!», dröhnte Eldoras Stimme.
Aliyah klammerte sich an die Sitzbank und konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren. Die Macht Eldoras lähmte sie förmlich. Sie saugte ihr sämtliche Kraft aus den Knochen. Aliyah fühlte sich auf einmal unendlich müde.
«Ich kann sie nicht besiegen», flüsterte sie erschöpft, und ihre Augenlider wurden ganz schwer. «Es ist vorbei.»
In diesem Moment ertönte plötzlich ein schriller Schrei, der Glas hätte zum Bersten bringen können. Wie aus einem Alptraum aufgeschreckt, kamen die Jugendlichen zu sich. Sie sahen sich verstört um, und dann blieb ihr Blick an Eldora haften. Ihre glitzernden Juwelenaugen waren nicht mehr auf sie gerichtet, sondern auf einen flachen Gegenstand, den Nayati, die Vorderpfoten auf den Bootsrand gestützt, in der Schnauze hielt: Sihanas Spiegel.
Die Herrscherin der Sümpfe starrte in ihr eigenes Gesicht, und je länger sie sich selbst betrachtete, desto mehr begann ihre porzellanfarbene Haut zu bröckeln, als wäre sie aus Stein. Grauer und grauer wurde ihr Gesicht, und mit vor Entsetzen glühenden Augen sah die Herrscherin der Sümpfe ihre unvergleichliche Schönheit dahinwelken. Ihr Gesicht wurde zur Fratze. Ihre Lippen wurden dick und wulstig, ihr Mund zu einem schiefen Rachen, aus dem faulige Zähne in alle Richtungen hervorragten. Ihr ganzer Körper begann sich zu verziehen, und mit einem fürchterlich gequälten Heulen verwandelte sich Eldora in die hässlichste Kreatur, die die Jugendlichen je gesehen hatten. Verängstigt duckten sie sich unter die Sitzbänke und lugten zitternd über den Rand der schwankenden Nussschale zu ihr hin. Ihre Arme glichen jetzt Fangarmen eines Insekts, ihre Hände wurden zu Klauen, und unter einem schwarzen, zerfetzten Umhang versteckt klammerte sie etwas an sich, als wäre es ihr Leben.
«Das Buch der Prophetie!», rief Ephrion. «Sie hat es bei sich!»
«Es gehört mir!», donnerte die Bestie in einer Sprache, die nur Aliyah verstand. «Melokra pa’hschtum nuhtíi! Es gehört mir allein! Ich werde es niemals hergeben! Niemals! Ahhh!»
Und mit einem letzten Aufschrei, der klang, als würden tausend Fingernägel über eine Wandtafel gezogen, zerfiel die Herrscherin der Sümpfe vor ihren Augen zu Asche. Die funkelnden Diamantenaugen plumpsten ins Wasser und verschwanden augenblicklich in der Tiefe. Und das Buch der Prophetie landete wie von Zauberhand gelenkt völlig unversehrt auf einer der mittleren Sitzbänke. Ein sanfter Windhauch blies den Schwefelgeruch und den Staub fort, und dann herrschte Stille. Der Sumpf glich wieder einer spiegelblank polierten schwarzen Tanzfläche, und es war so still, als wäre alles, was soeben geschehen war, nichts weiter als ein böser Traum gewesen.
40
Noch immer völlig verdattert und mit weichen Knien krochen die Jugendlichen unter den Sitzen hervor. Aliyah zog sich an der Sitzbank hoch und fühlte etwas Ledernes unter ihren Fingern.
«Sagt bloß … Ist es das, was ich vermute?»
«Der zweite Teil des Buches der Prophetie», bestätigte Ephrion, setzte sich neben Aliyah hin und nahm das kostbare Buch an sich. Es waren rund hundert mit Leinenzwirn geheftete Seiten, alt und abgegriffen, die in einer Ledermappe lagen.
«Wie kommt es hierher?», fragte Aliyah.
«Eldora hat es fallen lassen, als sie sich in Staub auflöste», berichtete Miro.
«Sie hat sich in Staub aufgelöst?», rief Aliyah erfreut. «Wie ist denn das passiert?»
«Keine Ahnung», gestand Sihana aufgeregt. «Nayati hatte plötzlich diesen Spiegel in der Schnauze …»
«Nayati hat einen Spiegel gefunden?»
«Ja, und zwar meinen, wie es aussieht», sagte Sihana, während sie die Hand nach dem Wolf ausstreckte. «Lass ihn bloß nicht ins Wasser fallen. Ich brauch ihn noch.»
Nayati legte ihr den Spiegel folgsam in den Schoß und wedelte stolz mit dem Schwanz.
«Dann hat es also funktioniert», murmelte Aliyah fasziniert. «Sie hat ihr Spiegelbild gesehen und sich selbst zerstört. Genau, wie Hubertus es gesagt hat: Wir haben ihre Waffe, ihre Augen, gegen sie selbst gedreht und sie damit besiegt. ‹Und sieht sie dem tödlichsten Feind ins Gesicht, zerfällt ihre Macht, und der Zauber zerbricht›.»
«Du hast das Rätsel gelöst!», stellte Ephrion bewundernd fest.
«Gerade noch rechtzeitig, bevor ihr alle aus dem Boot aussteigen wolltet», sagte Aliyah trocken.
«Wir
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