Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
… bitte! Mama!!!»
Ein Weinkrampf schüttelte seinen Körper. So stand er da, mitten in dem kleinen, düsteren Raum, während die Mutter in seinen starken Armen lag, als würde sie schlafen. Minuten verstrichen, ohne dass sich Joash von der Stelle rührte. Er stand nur da und schluchzte und weinte und drückte seine Mutter an sich. Die Zeit war stehen geblieben – und auch sein Leben.
Er trug seine Mutter zu ihrem Bett und legte sie vorsichtig hinein. Eine graue Blässe hatte sich über ihr Gesicht gelegt. Die Realität traf Joash mit brutaler Härte. Seine Mutter war tot. Sie hatte ihn verlassen – genau wie sein Vater. Jetzt war er ganz allein. Er hatte niemanden mehr auf dieser Welt. Nur sich selbst. Er wischte sich mit dem Handrücken über die rotgeweinten Augen und schluckte entschlossen die Tränen hinunter. Er würde nicht mehr weinen. Er würde nie mehr weinen. Nie mehr!
Sein Blick fiel auf das kleine Nachttischchen neben dem Bett seiner Mutter. Eine Spiegelscherbe lag darauf, auf der die Reste eines feinen weißen Pulvers und ein Schaber lagen. Daneben fand Joash die Haarbürste seiner Mutter. Er nahm sie und begann damit hingebungsvoll ihre Haare zu kämmen. Dann nahm er ein Messer und schnitt ein Büschel ihres glänzenden Haares ab. Er wickelte es sorgfältig in ein Tuch, steckte es in seine Hosentasche und küsste seine Mutter ein letztes Mal auf ihre Stirn.
«Leb wohl, Mama», hauchte er. «Leb wohl.»
Die Vision begann sich zu dehnen und zu drehen, und auf einmal fand sich Aliyah wieder in ihrem eigenen, von Spiegeln eingekleideten Zimmer vor. Sie wischte sich das Blut von der Nase, rappelte sich vom Boden hoch und sah in den Spiegel an der Wand. Sie sah noch immer Joash, und alles, was sie tun konnte, war zu weinen. Sie weinte bitterlich. Sie hatte einen entscheidenden Moment aus seinem Leben miterlebt. Sie hatte gesehen, was er gesehen hatte; sie hatte gefühlt, was er gefühlt hatte.
«Joash, das tut mir so leid», murmelte sie, während sie mit ihren Fingern nach seinem Gesicht im Spiegel tastete. Ihre Blindheit kam ihr auf einmal nur noch halb so schlimm vor wie seine Einsamkeit.
Die Tür ging auf, und ein Onovan trat ein.
«Kommt», sagte er.
Aliyah folgte ihm aus dem Zimmer, und als sie ihren Fuß über die Schwelle setzte, erlosch ihr Augenlicht, und sie war zurück in ihrer Welt der Dunkelheit. Sie betastete ihren Körper und spürte, dass sie wieder sie selbst war.
«Ich bin blind!», stellte sie erleichtert fest. «Ich bin wieder blind!» Ein glückliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie dem Onovan durch den Laubengang folgte.
62
«Achtung, da kommt die Tonne!», grinste ein Teenager, während er mit seinem Finger auf Ephrion zeigte. Alle Schüler begannen zu lachen und dumme Sprüche zu reißen, als Ephrion die Cafeteria betrat. Oh, wie es ihn kränkte, wenn sie über ihn spotteten. Er hasste es so sehr. In der Mittagspause war die Spöttelei am schlimmsten. Wenn er an ihren Tischen vorbeilief, begannen die Schüler zu tuscheln und zu kichern, und selbst wenn sie nichts sagten, so sah er doch in ihren Augen, dass sie hofften, er würde sich nicht etwa an denselben Tisch setzen.
Wie alle andern Kinder brachte auch Ephrion sein Essen von zu Hause mit. Doch er fühlte sich nie wohl, wenn er sein Fladenbrot verdrückte, denn immer wurde er von allen Seiten angestarrt, und die Kinder lachten über ihn. Er hielt nach einem leeren Tisch Ausschau, wo er seine Ruhe haben würde. Sein Schulfreund und Leidensgenosse Ansgar, der ebenfalls ziemlich dick war und von den Mitschülern gehänselt wurde, war heute nicht zur Schule gekommen. Also musste sich Ephrion alleine gegen die gnadenlosen Sprüche verteidigen.
«Hey, Tonne, du kannst dich hierhin setzen», sagte ein Mädchen großzügig und winkte ihn zu sich heran. Es saß zusammen mit anderen Mädchen an einem Tisch und rutschte etwas zur Seite, um ihm auf der Bank Platz zu machen. Erleichtert ging Ephrion auf die Mädchen zu, bedankte sich, stellte seine Essenstüte auf den Tisch und setzte sich. Doch kaum hatte er sich gesetzt, sprang er auch schon wieder auf. Etwas hatte ihn in sein Hinterteil gestochen.
«Autsch!», schrie er.
Gelächter schallte durch den Speisesaal. Jemand hatte einen Reißnagel auf seinen Platz gelegt. Die Mädchen rutschten rasch zurück und schlossen demonstrativ die Lücke, die sie für Ephrion freigemacht hatten, während sie noch immer vergnügt kicherten.
«Tut mir leid, Tonne, wir
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