Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
sogar mehrere? Wer konnte das schon sagen? Mucksmäuschenstill blieb Katara liegen und wartete mit klopfendem Herzen, was als Nächstes geschehen würde. Sie hörte, wie die Unbekannten wieder die Treppe hochstiegen. Die Tür am oberen Ende quietschte und fiel ächzend ins Schloss.
Danach war es still, still wie in einer Grabkammer. Und Katara blieb allein zurück, allein mit den absurdesten Gedanken, die beinahe noch unerträglicher waren als ihre Fesseln. Sie war allein mit tausend unbeantworteten Fragen, allein mit einer fast lähmenden Ungewissheit – und mit einer Leiche. Zumindest dachte sie, es wäre eine Leiche, bis sie ein leises Scharren hörte, genau aus der Richtung, wo die Fremden den Körper abgelegt hatten. Vielleicht Ratten? Es raschelte erneut, und nun hörte Katara unverkennbar ein schwaches Stöhnen. Der vermeintliche Tote war am Leben!
«Hey!», flüsterte Katara. «Hey du! Kannst du mich verstehen? Bist du wach?»
Zuerst kam keine Antwort, nur erneut ein Seufzen.
«Hey! Sag etwas!»
«Wo bin ich?» Es war die helle Stimme eines Jungen, und sie klang sehr verängstigt.
«Ich weiß nicht, wo wir sind», antwortete Katara. «Bist du verletzt?»
«Ich glaube nicht», sagte der Junge. «Wer bist du?»
«Ich heiße Katara. Und du?»
«Mein Name ist Ephrion», kam die Antwort zögerlich aus dem Dunkeln.
12
Miro kam sich in der sechsrädrigen geschlossenen Kutsche seines Vaters vor wie ein Prinz. Breitbeinig saß er auf dem ledernen roten Rücksitz, den er heute ganz für sich alleine hatte. Miro war achtzehn, groß und schlank, hatte blaue Augen, eine klassisch gerade Nase und eine recht blasse Gesichtsfarbe, die ihn aber sehr intelligent aussehen ließ. Er trug einen schicken Anzug aus schwarzem Baumwollsamt, darunter ein weißes Satin-Hemd, dessen oberste Knöpfe er lässig offen gelassen hatte. Er roch nach einem sehr teuren Parfüm. Sein feuerrotes Haar war mit viel Gel bis in die Haarspitzen gestylt worden. Ein kleiner goldener Ring blinkte in seinem linken Ohrläppchen.
Durch die Scheiben des luxuriösen Gefährts blickte Miro nach draußen. Es war ein herrliches Gefühl, in der eigenen Kutsche durch die Straßen von Dark City zu fahren und die staunenden Gesichter der Menschen zu sehen, an denen sie vorbeirollten. Miro wusste, warum sie staunten. Es war schon selten genug, eine Kutsche zu sehen, geschweige denn eine sechsrädrige. In Dark City gab es nicht viele Kutschen, weil sich nur wenige den Luxus eines Pferdes leisten konnten. Die meisten Menschen gingen zu Fuß oder waren mit Laufrädern unterwegs. Nur die wenigen Reichen ließen sich in Kutschen durch die Straßen chauffieren, und da Miros Vater einer der reichsten Bürger Dark Citys war, hatte er sich eine sechsrädrige Kutsche mit Goldverzierungen und allerlei technischen Raffinessen anfertigen lassen. Damit die Fahrgäste sich mit dem Kutscher verständigen konnten, gab es einen kleinen Schieber, den man auf Knopfdruck öffnen oder schließen konnte. Auf Knopfdruck ließ sich auch die Tür verriegeln oder entsperren. Und in der Kabine war sogar eine Minibar eingebaut.
Miro knabberte an einer Handvoll Nüsse herum, während er das hektische Treiben auf der Straße beobachtete. Alle strömten in Richtung Stadion. Die Kutsche konnte sich nur im Schritttempo durch die Menge wälzen.
«Ich liebe Hexenverbrennungen», sprach Miro nach einer Weile seinen Kutscher durch die geöffnete Luke an, «Ihr auch, Bora?» Im Grunde erwartete der Junge keine Antwort, und der Kutscher gab ihm auch keine. Er saß auf dem Kutschbock, die Mütze in die Stirn gezogen, und konzentrierte sich auf die vielen Menschen, die es schier unmöglich machten, die vorgespannten Pferde an ihnen vorbeizulenken. Schließlich blieb die Kutsche ganz stehen, fast wie ein Felsbrocken in einer reißenden Flussströmung. Innerhalb kürzester Zeit wurden sie von Hunderten von Menschen umspült. Einige wurden aus Platzmangel gegen die Kutsche gepresst, andere drückten ihre Köpfe bewusst gegen die Scheiben und schnitten Grimassen. Miro schreckte zurück, als er ihre ausgemergelten Gesichter sah. Ein paar ganz aufgeweckte Kerle klopften an die Scheiben und machten sich am Türgriff zu schaffen. Miro wurde es ungemütlich zumute inmitten der vielen drängenden und lärmenden Leute. Rasch verriegelte er per Knopfdruck die Tür und hoffte, die Kutsche würde sich endlich wieder in Bewegung setzen. Doch die Pferde waren durch die aufgewühlte Masse unruhig geworden und
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