Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
sich an jedem Vorsprung fest, den sie finden konnten. Denn nur ein einziger Fehltritt, nur ein kleiner Ausrutscher, und sie wären in den sicheren Tod gestürzt. Manchmal löste sich Geröll von den seitlichen Felswänden, und sie hörten, wie die Steine irgendwo tief unter ihnen an den Felsen zerschmetterten. Ephrion glaubte jedes Mal, sein Herz würde stehen bleiben. Nur nicht nach unten gucken, redete er auf sich selbst ein, einfach gut durchatmen und nach vorne schauen. Du schaffst das. Du kannst das. Denk nicht an die Höhe. Du brauchst keine Angst zu haben. Katara wird dich halten. Sie hat alles im Griff. Einfach nicht die Nerven verlieren. Setze einen Fuß vor den andern. Wir sind gleich oben. Nur noch ein paar Armspannen …
Der Aufstieg dauerte eine Ewigkeit. Irgendwann hörte Ephrion über sich, wie Nayati freudig heulte, und ging davon aus, dass der Wolf die Felsterrasse vor der Höhle erreicht hatte. Katara bestätigte seine Vermutung.
«Wir sind oben!», rief sie und schwang sich flink wie ein Berglöwe auf das flache Plateau. «Wir haben es geschafft, Freunde!» Sie ergriff Aliyahs Arm und zog sie zu sich auf den glatten Felsvorsprung, danach Miro. Zuletzt streckte sie ihre Hand aus, um Ephrion zu helfen.
Und in diesem Moment geschah es. Es passierte das, wovor sich Ephrion die ganze Zeit gefürchtet hatte: Beim Sprung vom letzten Felsen hinauf aufs Felsplateau rutschte er aus. Nur wenige Fingerbreit vor dem Ziel rutschte der Junge aus, und hätte er nicht im letzten Augenblick die Wurzel eines abgestorbenen Strauches zu fassen gekriegt, wäre dies sein Ende gewesen. Jäh schrie er auf, als er den Boden unter den Füßen verlor. Verzweifelt suchte er nach einem Halt und zappelte hilflos in der Luft herum.
«Ephrion!», rief Aliyah besorgt.
«Bei Shaíria!», stieß Miro hervor. Er war gelähmt vor Schreck und drückte sich nur unbeholfen an die Felswand hinter sich, unfähig, irgendetwas zu unternehmen.
Katara war die Einzige, die angesichts der dramatischen Situation einen klaren Kopf behielt. Geistesgegenwärtig warf sie sich zu Boden und beugte sich so weit über den Felsvorsprung, wie es ihr irgend möglich war. «Nimm meine Hand!», rief sie Ephrion zu. «Ich ziehe dich hoch!»
«Ich kann nicht!», stammelte Ephrion.
«Komm schon! Du kannst das! Ich weiß, dass du es kannst!»
«Ich rutsche! Die Wurzel hält mich nicht!»
«Nimm meine Hand!», befahl ihm Katara erneut. Sie robbte noch ein Stückchen weiter nach vorne, so dass fast ihr ganzer Oberkörper frei über dem offenen Abgrund schwebte. Mit der linken Hand bekam sie einen Ast desselben Strauches zu fassen, an dem Ephrion hing, und mit der rechten griff sie nach dem Vierzehnjährigen, erreichte ihn aber um einen halben Fingerbreit nicht.
«Lass die Wurzel los und greife nach meiner Hand!», rief sie ihm zu.
«Ich … ich kann die Wurzel nicht loslassen!», stotterte Ephrion. «Sonst stürze ich ab!»
«Hör mir zu, Ephrion», sagte Katara und gab sich Mühe, möglichst ruhig zu bleiben. «Du musst die Wurzel jetzt loslassen. Nur mit einer Hand. Vertrau mir. Ich werde dich nicht fallen lassen.»
«Ich habe Angst!», wimmerte Ephrion aus trockener Kehle. «Ich will nicht sterben!»
«Lass den elenden Ast los, Dicker!», rief jetzt Miro von hinten. «Katara weiß, was sie tut. Sie wird dich halten!»
Ephrion baumelte über dem gähnenden Abgrund, die Hände um die nasse Wurzel geklammert, und seine Verzweiflung war so groß, dass er nicht mehr klar denken konnte. So hing er an dem senkrecht abfallenden Felsen, und seine glitschigen Hände rutschten immer mehr von der Wurzel ab. Geröll löste sich vom Felsen. Ephrion sah nach unten, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Es war, als würde er geradewegs in den Rachen des Todes hineinblicken. Es war, als würde ihn der Tod selbst in die Tiefe reißen wollen. Noch nie in seinem Leben hatte Ephrion mehr Angst empfunden als in diesem Augenblick.
«Sieh nicht nach unten!», schrie Katara. «Sieh nach oben, Ephrion! Sieh mich an! Nimm meine Hand!»
Ephrion zwang sich, nach oben zu schauen, und da sah er, dass sich unmittelbar neben Katara noch jemand anders über den Felsvorsprung beugte. Es war Aliyah, die blinde Aliyah. Besorgt und furchtlos zugleich saß sie da, dicht vor dem Abgrund, und ihr grünes und ihr blaues Auge schillerten wie zwei klare Bergseen und strahlten eine ansteckende Ruhe aus.
«Aliyah, geh zurück!», befahl ihr Katara. «Es ist zu gefährlich für
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