Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
die Ironie seiner Situation bewusst. Aliyah hatte ein trainiertes Gehör wie das einer Fledermaus, Katara ihre unwahrscheinliche Nachtsicht, die sogar das Sehvermögen einer Katze übertraf, und er war jetzt so blind wie ein Maulwurf. Er klammerte sich an Kataras Mantel und hoffte, dass sie bald die Mitte der Höhle erreichen würden. Von anderen abhängig zu sein, passte ihm ganz und gar nicht.
«Siehst du das Schwert irgendwo?», fragte er Katara mehrere Male.
«Du musst dich schon etwas gedulden», antwortete das Mädchen. «Die Höhle scheint ziemlich tief zu sein. Schwer zu sagen, wie weit sie in den Berg hineingeht.»
«Irgendwelche Risse oder Spalten im Boden? Ich habe keine Lust, plötzlich ins Leere zu treten.»
«Das wirst du nicht. Der Boden ist einigermaßen flach, jedenfalls bis jetzt.»
«Wir sollten uns Mühe geben, keine Geräusche zu machen», ermahnte Aliyah die andern im Flüsterton. «Das Mütterchen hat uns ausdrücklich gesagt, wir sollten ganz leise sein.»
«Das ergibt einfach keinen Sinn», überlegte Miro. «Warum sollten wir leise sein? Um keine Fledermäuse aufzuschrecken?»
Aliyah wich einer seitlich hervorstehenden Felsennase aus. «Vielleicht würden die Geräusche Felsbrocken von den Wänden lösen und uns unter sich begraben.»
«Sei nicht so dramatisch», meinte Miro.
Katara kletterte über einen großen Stein und half Miro darüber. «Irgendeine Gefahr muss es wohl geben», gab sie zu bedenken. «Immerhin hat jemand sein Leben geopfert, um das Schwert herzubringen.»
«Das kann auch symbolisch gemeint sein», schwächte Miro ihr Argument ab.
«Und wenn nicht? Das Mütterchen sagte, nicht jeder käme lebend aus dieser Höhle heraus.»
«Wir schon», sagte Miro. «Ich habe nicht die Absicht, hier drin zu vermodern. Warum seid ihr bloß so pessimistisch?»
«Ich bin bloß realistisch», sagte Katara.
Aliyah blieb stehen und atmete tief durch. «Miro, Katara, ich spüre etwas.»
Katara drehte sich dem blinden Mädchen mit gerunzelter Stirn zu.
«Was meinst du damit?»
«Ich weiß es nicht genau. Ich spüre es, seit wir die Höhle betreten haben. Erst dachte ich mir nichts dabei. Doch je tiefer wir in den Berg vordringen, desto stärker wird es.»
«Seht ihr», meinte Miro, «genau deswegen wollte ich nicht, dass die Blinde mitkommt. Sie hält uns nur auf. Nächstes Mal solltet ihr auf mich hören, Mädels.»
Aliyah schenkte seiner Bemerkung keine Beachtung. Katara sah, dass ihr Gesicht von Furcht gezeichnet war. Ihre Augen zuckten merkwürdig.
«Etwas wird geschehen», flüsterte sie abwesend. «Etwas Unheimliches. Ich kann es nicht erklären, aber ich fühle es. Ich fühle es ganz deutlich.»
37
Als Soralja dem König vorgeführt wurde, umspielte ein zufriedenes Lächeln seine Mundwinkel. Die Gefangene war an Händen und Füßen mit schweren Ketten gefesselt. Sie war zu schwach, um sich auf den Beinen zu halten und wurde von zwei Soldaten unter den Achselhöhlen festgehalten und wie ein lebloser Körper in den Thronsaal geschleift. Ihr langes, rostbraunes Haar reichte ihr bis fast zu den Hüften. Es war feucht, zerzaust und ungepflegt. Ihre Wangen waren eingefallen, ihr Körper ausgemergelt, ihre Augen waren ausdruckslos und wirkten, als hätte sie jeglichen Lebenswillen verloren. Die Frau war barfuß und trug ein langes, zerschlissenes Hemd, das wohl einmal weiß gewesen war. An ihrem Kleid waren Blutspritzer, und die noch nicht verheilten Striemen in ihrem Gesicht zeugten von der Brutalität, mit der sie behandelt worden war. Ihr Körper glühte wie von einem starken Fieber befallen. Das ehemals weiße Hemd war ihr etwas über die rechte Schulter gerutscht und gab den Blick frei auf ein Brandmal. Es zeigte einen aufrecht stehenden Löwen mit einem Schild, aus dem Strahlen nach allen Richtungen hervorgingen.
Drakar erhob sich von seinem Thron und schritt gemächlich auf die Frau zu. Er umkreiste sie wie ein Raubtier seine Beute und spürte ihren gebrochenen Willen. Dann stellte er sich mit gewölbter Brust vor sie hin, und ohne Vorwarnung schlug er sie ins Gesicht. Ihr Kopf drehte sich zur Seite. Sie schmeckte Blut auf ihren Lippen.
«Ihr habt mich belogen, Hexe!», knurrte er. «Ihr habt behauptet, alle Bücher wären zerstört worden. Ihr wisst genau, dass noch eines übrig ist. Und ich will von euch wissen, wo ich es finden kann.»
Die Lippen der Frau bebten, doch sie schwieg, worauf Drakar ihr eine zweite Ohrfeige verabreichte.
«Wo ist das letzte Buch
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