dark destiny
und eine Stille über der Stadt lag, als wären selbst die Ratten mit ihren Pfoten an der Regenrinnen festgefroren.
Doch Neel war wach. »Kennst du das?«, fragte er und strich meine Haare Strähne für Strähne mit den Fingern glatt. »Wenn man aufwacht, und obwohl man noch weiterschlafen könnte, fühlt man sich ausgeruht. Wenn man aber aufwacht, weil man gezwungen ist aufzustehen, ist man müde wie ein alter Hund.«
Er küsste mich. Es war unser erster richtiger, inniger Kuss, wie ich erstaunt feststellte. Ein Verschmelzen, viel mehr als bloß ein Berühren der Lippen. Sein Mund war warm und schmeckte so herzzerreißend nach Neel, dass der ganze Winter mit all seinem Leid und seiner Einsamkeit aus meinem Kopf verschwand. Wir waren zusammen, als hätte nichts und niemand uns je getrennt.
Als wir miteinander schliefen, fühlte sich der Moment so selten und kostbar an, dass ich mir wünschte, ihn festhalten zu können. Ich erinnerte mich an meine wilde Malve, die Neel gepresst und zwischen Plastik befestigt hatte, um sie zu konservieren. Genutzt hatte es nichts, sie war im Kampf verloren oder kaputtgegangen, ich wusste es nicht genau. Nein, besser, ich hielt den Moment nicht fest. Er musste frei sein. Dann geschah ihm nichts.
• • •
In den folgenden Wochen nutzten wir jede nur erdenkliche Möglichkeit, um zusammen zu sein. Das mag nicht schwierig klingen. Wir hatten Gesetze gebrochen und Unmöglichkeiten überwunden. Jetzt, da all die Zweifel ausgeräumt und meine alten Grundsätze begraben waren, sollte es für uns ein Leichtes sein, Zeit gemeinsam zu verbringen. Tatsächlich waren es banale Dinge wie die Notwendigkeit von Schlaf und Arbeit, die uns das Leben schwer machten.
Neel arbeitete am Tag. Sobald der Himmel verdunkelt wurde, musste er bei seinem Vorarbeiter erscheinen und Bäume fällen, zum Sägewerk transportieren, das Holz zuschneiden und hacken, bis es Abend war. Zeitgleich, wenn er nach Hause kam, Staub im
Gesicht, Sägespäne im Haar und einen herrlichen Holzgeruch verströmend, musste ich meine Schicht im Mondlicht beginnen und dort Krüge umhertragen, oft bis der Morgen graute und sich meine Füße anfühlten wie zwei Gallonen Wasser. Neel schlief, während ich arbeitete, und ich schlief, wenn Neel bei der Arbeit war. Wir trafen uns kurz vor Sonnenaufgang und oft waren die beiden Stunden, bis Dark Canopy wieder eingeschaltet wurde, die einzigen, die wir miteinander verbringen konnten.
Außerhalb dieser beiden Stunden verstrich die Zeit, als hätte man unsere Existenz vergessen. Niemand behelligte Neel. Was immer er falsch gemacht hatte, man ließ ihn in Ruhe.
Von Amber hörten wir nichts, nicht das kleinste Gerücht über ihren Tod oder ihre Gefangennahme machte die Runde. Sie musste also noch leben - oder war in Freiheit gestorben. Ich schickte ihr all meine guten Wünsche, auch wenn das lächerlich wenig war, was ich für sie tun konnte.
Graves, der mich selten in der Bar besuchte, spottete manchmal, man müsse Amber nun bald wieder einfangen, denn ehe ihr Schicksal nicht geklärt war, durfte Neel keinen Anspruch auf eine neue Frau erheben. Uns war es wichtiger, uns zu lieben, statt Ansprüche auf- oder aneinander zu stellen. Wir brauchten keine Erlaubnis von der Stadt und ihrer Regierung.
Was Neel und ich gebraucht hätten, war Zeit oder wenigstens andere Arbeitszeiten. Aber war es uns auch noch so leichtgefallen, unsere derzeitigen Arbeitsstellen zu finden, merkten wir beide nun, dass das nicht selbstverständlich war. Besonders in Erinnerung blieb mir der Versuch, im Pferdestall nach Arbeit zu fragen; dort, wo jene Percents Pferde liehen, die keine eigenen besaßen.
Ich näherte mich dem flachen, lang gezogenen Gebäude auf leisen Sohlen. Meine Fußspuren im Schnee bereiteten mir Sorgen, ich wollte am liebsten ungesehen bleiben. Erst als ich ganz nah am Gebäude war, konnte ich benennen, was mich so unruhig machte. Es roch nach Pferden - nein, es stank. Aber es war zu still.
Ich machte kehrt, einen dicken Kloß im Hals. Hier gab es keine Arbeit mehr. Und keine Pferde.
Plötzlich ertönte ein Rascheln hinter mir, ich schrak zusammen und fuhr herum. Ein Mann stand in der offenen Tür des verwaisten Stalls, ein Percent. Ich meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben, kam aber nicht darauf, wann und wo. Er musterte mich mit einer Aggression in den Augen, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem erwischt, doch dann entspannte sich seine Miene mit einem Mal und wurde weich.
»Ach, du
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