dark destiny
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Du verstehst das vielleicht nicht ... du hast ja keine Familie. Aber mein Bruder ist alles, was ich noch habe.«
Neel hatte keine Worte, um sie zu erwidern. Für einen Augenblick war er weit weg. Ein Teil von ihm war unablässig bei Joy. Wo auch immer sie hingegangen war, sie hatte einen Großteil von ihm dorthin mitgenommen. Alle anderen seiner Gedanken umkreisten Edison, den kleinen Jungen, dem er vor Jahren erzählt hatte, er wäre sein Bruder, damit sie sich beide nicht mehr allein fühlten. Seit die Rebellen Neel gefangen genommen hatten, war er Edison ferngeblieben. Es würde den Kleinen ängstigen, ihn so zu sehen.
»Ich kann nicht einfach weglaufen«, bekräftigte das Mädchen. »Killian ist mein Bruder, ich lasse ihn nicht im Stich.«
»Dein Leben, dein Risiko - deine Entscheidung. Für den Fall, dass du es dir anders überlegst: Wie auch immer du wählst, es ist in Ordnung.« Neel konnte nur hoffen, dass sie ihre Meinung änderte, ehe die erste Raubkatze ihren Weg kreuzte.
• • •
Die Nacht verflog in einem wilden Ritt zurück zur Stadt. Tausend Bäume jagten an Neel vorbei und noch mehr Selbstvorwürfe und nutzlose Überlegungen, was er hätte besser machen können. Er hatte sich zusammengerissen, um dem Mädchen nicht noch mehr Angst einzujagen. Nun gab es dafür keinen Grund mehr. Kaum in der Stadt angekommen, ließ er die anderen wortlos stehen, brachte sein Pferd zum Stall, warf jemandem mit einem bellenden Befehl die Zügel zu und stapfte erfüllt von hilflosem Zorn zu Clouds Haus. Cloud wollte ihn gleich nach seiner Rückkehr sehen, hatte er gesagt, und das sicher nicht im Hotel in einem der offiziellen Räume.
Doch sein alter Mentor schlug ihm erneut ins Gesicht, und das, ohne die Hand zu bewegen, ja, ohne anwesend zu sein. Das Haus war leer. Die Tür stand offen, ein deutliches Zeichen, dass jemand anders Anspruch auf die Wohnräume erheben durfte. Alle Zimmer waren ausgeräumt. Selbst Amber hatten sie mitgenommen, übrig geblieben waren nur ein paar Flecken auf den Dielen und helle Schatten, wo vor wenigen Tagen noch Minas Bilder gehangen hatten.
Neels Schritte führten ihn in die Kammer, in der er als Kind gelebt hatte. Sein Bett, sein Schrank und die Holzkiste, in der er seine wenigen Spielzeuge aufbewahrt hatte - alles war fort. Nur das Mäuseloch war noch da, doch seit Mina eine Katze besaß (nachdem sie herausgefunden hatte, dass Neel die Mäuse fütterte), war es verwaist. Spinnweben verschlossen die kreisförmige Öffnung. Wenn niemand Anspruch auf das Haus erhob, würde bald alles voller Spinnweben sein.
Neel ging, ohne eine Erinnerung an sein früheres Zuhause mitzunehmen. Man hatte hier nichts für ihn übrig gelassen.
Davon abgesehen war ohnehin keine Zeit zu verlieren. Er hatte sich geschworen, Valeria nicht ihrem Schicksal zu überlassen, und wenn man es ihm verwehrte, selbst auf sie aufzupassen, musste er eben jemanden finden, der ihm half. Es fühlte sich schäbig an, Graves zu bitten, nachdem Neel ihm wochenlang aus dem Weg gegangen und alle Angebote hinsichtlich einer Aussprache abgewiesen hatte. Aber Neel hatte keine andere Idee und somit keine andere Wahl.
Er klopfte an Graves' Tür, doch niemand öffnete. Neel klopfte, bis jemand im Haus ein Fenster öffnete und ihm Verwünschungen entgegenbrüllte. Graves sei nicht da, ließ man ihn missmutig wissen, war seit gestern nicht mehr gesehen worden und er würde wohl auch nicht so bald zurückkommen. Doch wo Graves war, das interessierte keinen. Niemand konnte Neel eine Auskunft geben, egal an wie viel Türen er klopfte.
Erschöpft und rastlos zugleich steuerte er nach langem Suchen das Mondlicht an. Es war der einzige Ort, der ihm jetzt noch in den Sinn kam, auch wenn er genau wusste, dass Graves nicht da war. Dafür bestand dort die vage Möglichkeit, dieses beißende Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, kurzfristig zum Schweigen zu bringen. Wohin sollte er sonst auch gehen? Er musste mit Graves sprechen, er sollte Cloud treffen und er wollte Edison sehen. Doch für all das war es inzwischen zu spät. Der Morgen graute, die beiden Stunden, in denen das Tageslicht alle Percents in ihre Häuser jagte, sammelten hinter dem Horizont bereits ihre Kräfte. Neel stieß die Tür der Bar auf und taumelte hinein, als wäre er bereits betrunken.
»Wir schließen!«, begrüßte ihn der Wirt und hob drohend den Wischmopp, mit dem er gerade den Schmutz auf dem Boden verteilte. »Ach, du bist
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