dark destiny
der Nähe der Bar, an eine frostdurchzogene Wand gelehnt, zu warten. Würde sie kommen, einen Schritt aus der Tür wagen? Wenn nicht, dann würde er gehen und akzeptieren, dass sie nicht seinetwegen in der Stadt war.
Er hörte kehliges Lachen aus der Kneipe, roch das verbrennende Holz in den Häusern durch die Kamine. Sah halb verhungerte Ratten um ein Stück Metall kämpfen, das sie auch nicht satt machen würde.
Er wartete, bis die Feuchtigkeit in seinen Augenbrauen gefror. Er wartete, bis er seine Füße nicht mehr spürte und das Gefühl hatte, die eiskalte Haut an seinen Armen würde bei der nächsten Bewegung aufplatzen. Er wartete, bis er nur noch wartete, weil er sich kaum noch vom Fleck rühren konnte.
Wie hatte er es vergessen können? Joy war nicht nur stolz. Sie war auch unvergleichlich stur. Zumindest, wenn sie einen Grund hatte.
Und dann, als er die Hoffnung gerade aufgegeben hatte, öffnete sich die Tür der Bar und ein Rechteck aus schwachem Licht fiel auf den Gehsteig, in seiner Mitte eine schmale Silhouette.
Joy trat hinaus, hielt das Gesicht in die Kälte und blies eine Atemwolke in die Nacht. Dann wandte sie den Kopf zielstrebig in Neels Richtung, als wüsste sie genau, dass er dort stand. Doch dem war nicht so. Sie erschrak, als sie ihn wahrnahm, bedeckte ihren Mund mit einer Hand und stand einen Moment ganz still.
Er stieß sich von der Wand ab, machte ein paar vorsichtige Schritte auf sie zu. Schritte, die denen ähnelten, als er nach seinen Beinbrüchen zum ersten Mal wieder ohne Krücken gelaufen war: langsam, schwerfällig und wackelig. Er machte ein halbes Dutzend dieser Schritte und blieb dann stehen. Sie stand noch immer da wie schockgefroren.
»He!«, rief Neel, weil er einfach nicht anders konnte. »Bist du zu Eis erstarrt? So kalt ist es auch wieder nicht. Was soll ich denn sa-«
Joy rannte auf ihn zu.
Er stellte sich breitbeinig hin und rückte etwas zur Mauer, sie würde ihn noch umrennen und ihm alle durchgefrorenen Knochen brechen. Die Vorstellung brachte ihn zum Grinsen.
Tatsächlich aber bremste sie kurz vor ihm ab, hielt einen guten Schritt Abstand und starrte ihn an, als wäre es ein Verbrechen zu grinsen.
»Du ... du!« Sie blinzelte, schaffte es kaum, einen Lidschlag lang seinen Blick zu erwidern.
»He. Nicht weinen. Dann gefrieren dir die Tränen in den Augen.«
Sie lachte los und gleichzeitig rannen ihr Hunderte von Tränen über die Wangen. »Das hat meine Schwester auch immer gesagt. Aber das ist nur ein Märchen, um kleine Kinder davon abzuhalten, dass sie heulen.«
»Wirklich? Ich glaube aber dran.« Hoffentlich gingen ihm nicht die Kommentare aus. Ihm fiel nichts Sinnvolles ein. Er hatte sich schon lange nicht mehr derart in die Enge getrieben gefühlt. Und es war wunderbar.
»Brauchst du nicht.« Joy nahm seine Hand - er fühlte ihre Berührung kaum, so kalt waren seine Finger - und führte sie an ihre feuchte Wange. »Siehst du, ganz warm.«
Er verharrte, seine Fingerspitzen an ihrer Haut, ihre Tränen zwischen seinen Fingern. »Bist du sicher?«, fragte er und sie nickte, erst ganz vorsichtig, dann entschieden, als hinge ihr Leben davon ab, dass er ihr glaubte.
Er breitete die Arme aus. Sehr zögerlich, aus Angst, sie könnte ablehnen. Sie schmiegte sich an ihn, ebenfalls zögerlich, dabei musste sie doch wissen, dass er sie nie zurückweisen würde. Die Erleichterung, sie wiederzusehen, sie in Sicherheit zu wissen und sie berühren zu können, war so stark, dass sie alle anderen Empfindungen unter sich begrub. Er fühlte nur noch Joys Körper an seiner Brust, ihren Rücken und ihren Nacken unter seinen tauben Händen und ihre salzigen Tränen an seinen Lippen. Das Einzige, zu dem er imstande war, war durchzuatmen, ihren Geruch wahrzunehmen, wenigstens ein bisschen davon, und um sich daran zu erinnern, dass er ihn früher von Kopf bis Fuß eingehüllt hatte wie eine warme Decke. Und für einen kurzen Augenblick war ihm nicht mehr kalt.
»Sag was«, bat sie ganz leise.
Aber es gab nichts zu sagen. Nur viele Fragen und die Antworten konnten warten. Einige davon wollte er gar nicht wissen. Nicht in diesem Moment. Die Erleichterung sollte noch ein wenig andauern, rein und pur und ohne Zweifel.
Schließlich fragte Neel: »Was machst du hier?«, und erschrak im nächsten Moment angesichts ihrer Reaktion: Sie schluchzte.
»Ich dachte, du wärst tot, sonst wäre ich doch schon lange ...«
Er zog sie an sich. »Ist egal. Du bist hier. Du bist wirklich
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