Dark Future: Herz aus Feuer
einmal seinen Namen. Doch in den komischsten Momenten war ihr wieder durch den Kopf gegangen, wie sich als Andeutung eines Lächelns kleine Fältchen um seine Augen gebildet hatten. Oder wie er seine langen Beine ausgestreckt hatte, während er zusah, wie sie ihre Angelegenheit mit Viktor klärte. Und die Art, wie er sie ebenso interessiert wie untätig beobachtet hatte, als sie sich um ihr Problem kümmerte.
Sieht nicht so aus, als bräuchtest du meine Hilfe.
Nur besondere Männer konnten sich zurücklehnen und die Frau handeln lassen.
Alberne Verliebtheit. Sie hatte darüber gelesen. Junge Mädchen fixierten sich oft auf ein Objekt ihrer Begierde, ohne über die Persönlichkeit des besagten Objekts Bescheid zu wissen. Sie hatte Holo-Videos über ein spezielles gesellschaftliches Phänomen im ersten Teil des Jahrhunderts gesehen: Beliebte Sänger waren damals von Heerscharen von kreischenden und schluchzenden Mädchen verfolgt worden.
Aber so jung war sie nicht mehr, und sie war nie wie die anderen Mädchen gewesen.
Sie nahm noch einen Bissen von dem ledrigen Riegel in ihrer Hand und schluckte, ohne etwas zu schmecken. Genau genommen machte sie es nur, weil sie die Kalorien brauchte. Sie blickte in die Sonne. Nach wochenlanger Dunkelheit hatte die Sonne wieder begonnen aufzugehen. Zuerst nur für vierzig Minuten, doch dann Tag für Tag ein bisschen länger. Sie blinzelte in den Himmel und überlegte sich, dass ihr noch ungefähr eine Stunde blieb, bevor es wieder dunkel wurde. Nicht, dass sie ein Problem damit hatte. Sie konnte in der Dunkelheit genauso gut sehen wie im Tageslicht, aber sie
mochte
die Sonne. Sie mochte die Wärme auf ihrer Haut und das helle Glitzern auf dem Eis.
In ihrem Gefängnis hatte sie die Sonne nie gesehen.
Es war interessant und mehr als nur ein bisschen beängstigend, die eigenen Vorlieben und Abneigungen kennenzulernen, die Freiheit zu haben, zu essen, wann man wollte, zu schlafen, wenn einem danach war. Hinzugehen, wo auch immer man wollte.
Sie folgte noch immer einem straff organisierten Plan, aß immer zu denselben Zeiten, trainierte zu denselben Zeiten. Der Plan war das Einzige, was sie während ihrer Gefangenschaft daran gehindert hatte, vollkommen verrückt zu werden; sie hatte gelernt zu kontrollieren, was sie kontrollieren konnte, und keinen Gedanken an Dinge zu verschwenden, die sie nicht ändern konnte.
Nachdem sie nun frei war, war diese Reglementierung nur schwer wieder abzulegen.
»Also, wohin nun?«, fragte sie. Es war niemand da, der ihr antworten konnte, doch manchmal musste sie den Klang einer Stimme hören, auch wenn es nur ihre eigene war. Es war eine Angewohnheit, die sie im Laufe der Jahre angenommen hatte, in denen sie in Einsamkeit gefangen gehalten und menschlicher Kontakt als Belohnung oder zur Strafe eingesetzt worden war.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie sich so danach gesehnt hatte, eine andere Stimme zu hören, dass sie sich tatsächlich darüber gefreut hatte, Bane in ihre Zelle kommen zu sehen. Das war krank und verdreht. Dann, nachdem sie schon ein paar Jahre in Gefangenschaft gelebt hatte, hatte er begonnen, Gavin Ward mitzubringen, und sie hatte die Abstufungen des Bösen kennengelernt.
Bane war furchtbar gewesen, aber er hatte nie vorgegeben, etwas anderes zu sein, als er war – ein Mann, der das Leiden anderer genoss.
Ward war schlimmer gewesen, denn er hatte so getan, als gäbe es einen guten Grund für sein Handeln. Er hatte behauptet, dass es im Namen der Wissenschaft gerechtfertigt wäre.
Nein, er hatte nicht nur so getan. Er hatte wirklich
geglaubt,
dass alle seine Untaten im Namen der wissenschaftlichen Forschung gerechtfertigt waren.
Aus der Ferne drang das leise Geräusch eines Motors an ihr Ohr. Ein kleiner Motor, ein kleines Fahrzeug. Nein,
Fahrzeuge.
Mehr als eins.
Sie erstarrte, und die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Ein ahnungsvolles Kribbeln kitzelte ihr Bewusstsein und versetzte ihre Sinne in Alarmbereitschaft.
Sie richtete sich auf, hob den Kopf und nahm den Geruch in der Luft wahr. Menschen, die schnell näher kamen. Dutzende von ihnen. Sie konnte ihre Gefühle sogar aus dieser Entfernung spüren – Zorn und Hass und unverhohlene Brutalität.
Tatiana blickte zum Horizont und sah sie. Ein Schneemobil fuhr voraus, und eine große Gruppe von Fahrern folgte ihm. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich zusehends. Sie waren nicht hinter ihr her, hatten sie augenscheinlich noch nicht einmal bemerkt,
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