Dark Heart: Zweiter Band
Valentine zu tun.
Sein Aussehen, seine Gestalt hatten sich gegenüber früher vollkommen verändert. Vielleicht zeigten sich nun die Spuren der Qualen, die er allein und verwundet unter den Trümmern durchlitten hatte. Bei einem Vampir wären alle Spuren von Erschöpfung oder körperlicher Verletzung sofort getilgt gewesen, denn Nachtgeschöpfe konnten sich blitzschnell regenerieren. Doch im Gesicht des Menschen Jack war nun alles Geschehene deutlich zu lesen: Seine Züge wirkten eingefallen, seine Haut war fah l – nichts war geblieben von dem Alabasterteint, der mich früher so fasziniert hatte. Die Schwellung am rechten Auge hatte eine dunkle Färbung angenommen, die Wunde auf der Stirn war verschorft und der betörende Rosenduft war verschwunden. Jack war ein Mensch, sein Körper schwach und sterblich wie wir alle. Aber er lebte, und das war das Wichtigste.
»Sagen Sie, Sam, erinnern Sie sich noch an einen Mann namens James Milton?«, fragte ich.
»Milton?« Sam runzelte die Stirn. »Wer soll das sein?«
»Er muss vor einigen Jahren einmal hier in der Nähe in einer Hütte gelebt haben. Dunkle Haare, südländischer Typ, Anfang zwanzig.«
»Ich kenne James«, sagte auf einmal eine brüchige, raue Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah in das von Falten zerfurchte Gesicht jener Frau, die ich schon bei unserer Ankunft auf der Straße gesehen hatte. Statt der grünen Strickjacke trug sie jetzt einen alten grauen Rollkragenpullover. Wieder hatte ich das Gefühl, diese Frau irgendwo schon einmal gesehen zu habe n – und jetzt endlich fiel es mir wieder ein: Über meinen telepathischen Kontakt mit Jack hatte ich mitbekommen, wie er mit der blinden Frau gesprochen hatte.
Ihre Augen blinzelten unentwegt hinter den trüben, zerkratzten Brillengläsern.
»Hallo, mein Name ist Lydia.«
Martha kniff die Augen zusammen und trat nah zu mir heran. So als könnte sie mich mit einer Art höheren Sinneswahrnehmung erfassen, die Normalsterblichen nicht gegeben war. »Ich weiß. Du bist das Mädchen, von dem mir Jack erzählt hat.« Sie lächelte und entblößte dabei ein Gebiss, in dem die Hälfte der Zähne fehlte. »Wir müssen reden«, sagte sie und wandte den Kopf in Sams Richtung. »Unter vier Augen.«
»Ich glaube, in der Sakristei ist gerade niemand«, antwortete Sam, die sich von der Geheimnistuerei und dem merkwürdigen Auftreten der alten Frau nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen ließ. »Dort können Sie sich in Ruhe unterhalten.«
»Nettes Kind, diese Sam. Aber keine von uns«, sagte Martha, als sie sich ächzend auf der Couch niederließ. Ich schloss die Tür hinter uns.
»Bitte?«, fragte ich verwirrt und setzte mich ihr gegenüber auf den Schreibtischstuhl.
»Sie sind eine Squamish, ich eine Tahltan. Wir nehmen die Welt anders wahr als die Europäer«, sagte Martha und legte den Stock neben sich. »Die Weißen glauben nur das, was sie sehen. Und sie haben ihre Wurzeln vergessen.«
»Warum hat sich Jack Valentine mit Ihnen getroffen?«, fragte ich.
»Weil er etwas suchte und hoffte, ich könnte ihm dabei helfen, es zu finden. Aber er war nicht der Richtige.« Sie streckte ihre Hand aus. »Ich möchte dich etwas genauer betrachten.«
Ich wusste nicht recht, was diese seltsame Frau von mir wollte, war aber zu neugierig, um ihr die Bitte abzuschlagen. Flinke Finger huschten über mein Gesicht, tasteten über Stirn, Augen, Wangenknochen, Nase, Mund und Kinnpartie. Sie legte den Kopf zur Seite, als würde sie vor ihrem geistigen Auge Stück für Stück ein Bild zusammensetzen. Das Ergebnis schien ihr zu gefallen.
»Du bist tatsächlich Miltons Tochter«, sagte sie deutlich zufrieden und tätschelte mir mit ihren faltigen, rauen Händen die Wange.
»Sie kannten ihn?«
»Aber natürlich. Er ist Nachtrabes Stimme. Sie selbst ist schon seit langer Zeit verstummt.«
»Also ist sie doch tot!«, sagte ich erschrocken.
»Unsinn!« Martha machte eine unwirsche Geste. »Aber sie hat sich von dieser Welt abgewandt.«
»Woher wollen Sie das alles so genau wissen?«
»Weil Milton es mir erzählt hat«, sagte sie. »Ich war eine Zeit lang seine Gefährtin. Das war kurz nach dem Krieg, 1946. Damals war ich noch eine atemberaubende Schönheit, musst du wissen. Irgendwann war ich leider so alt, dass man mich für seine Mutter hielt. Da wusste ich, dass es Zeit war, James gehen zu lassen.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte ich mit klopfendem Herzen. »Was für ein Mensch war er?«
»Was für ein
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