Dark Heart: Zweiter Band
Mensch?« Martha lächelte amüsiert.
»Sie wissen, was ich meine: Wie muss man sich James Milton als Nachtgeschöpf vorstellen?«
»Die Frage war schon richtig gestellt«, sagte Martha. »Milton is t – wenn man das so sagen kan n – das menschlichste Nachtgeschöpf, das ich je kennengelernt habe. Und das meine ich ganz wörtlich.«
»Ich weiß, dass er ein Tagwandler ist.«
»Ja«, sagte Martha. »Und diese Fähigkeit hat ihn im Kreis der Nachtgeschöpfe alles andere als beliebt gemacht. Manche hassten ihn sogar, doch die meisten beneideten ihn um diese Gabe und wollten hinter sein Geheimnis kommen. Aber James schwieg. Um sich vor den Nachstellungen der anderen Nachtgeschöpfe zu schützen, baute er sich eine Hütte mitten in der Wildnis, nicht weit von hier entfernt. Dort hat er an der Übersetzung einer alten Handschrift gearbeitet.«
»Sie wissen, wo sich die Hütte befindet?« Ich war auf einmal ganz aufgeregt. »Bitte! Sie müssen uns helfen!«
»Was hoffen Sie dort zu finden?«
»Einen Hinweis darauf, wo sich Nachtrabe aufhält«, sagte ich verzweifelt.
»Und Jack Valentine?«
»Was ist mit Jack?«, fragte ich verwirrt.
»Mit ihm hatte ich fast das gleiche Gespräch wie mit Ihnen«, sagte Martha. »Doch Jack suchte nicht Nachtrabe. Er interessierte sich ausschließlich für Miltons Forschungen.«
Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit den Vampirfürsten. Lilith McCleery hatte Jack hergeschickt, damit er in ihrem Auftrag die fehlenden Seiten der Übersetzung fand. Auch er hatte nach der Hütte meines Vaters gesucht.
»James hatte ein Ziel, von dem er geradezu besessen war«, fuhr Martha fort. »Er war der Überzeugung, dass die Existenz der Nachtgeschöpfe eine Perversion des Lebens und des Todes war. Ein Fluch, ausgesprochen von Masau. Diesen Bann wollte James brechen. Nachdem er die Übersetzung vor mehr als fünfzig Jahren fertiggestellt hatte, bereisten wir die ganze Welt, um jene Pflanzen und Substanzen zu finden, die im Voynich-Manuskript beschrieben werden und die er für seine Verwandlung benötigte. Er wollte die Erkenntnisse, die er aus dem Buch gezogen hatte, zuerst auf uns anwenden.«
»Auf uns?«, fragte ich überrascht. »Sie meine n …«
Martha nickte. »Ja, auch auf mich. Schönheit. Ewige Jugend. Übermenschliche Körperkraft. All das hätte ich haben können. Aber ich habe es nicht gewollt, obwohl ich James liebte und wir auf diese Weise für immer hätten zusammenbleiben können. Ich fand es widernatürlich, so als würde dann auch mich Masaus Fluch treffen. Unsterblichkeit?« Sie lachte bitter. »Unsterblichkeit ist kein Segen, wenn die Freunde, die Familie um einen herum wegstirbt. Wenn man nie lange an einem Ort bleiben kann, weil man vierzig ist, aber wie zwanzig aussieht und die Leute irgendwann beginnen, unangenehme Fragen zu stellen. Man ist sein ganzes Leben lang auf der Flucht. Ich bin jetzt neunundachtzig Jahre alt und weiß, dass mein Ende naht. Und das ist gut so.« Martha holte ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und schnäuzte sich. »Als James fortging, fragte er mich ein letztes Mal, ob ich wirklich nicht für immer leben wolle. Ich sagte ihm: Nein. Und überzeugte ihn davon, das letzte Kapitel der Übersetzung mit all seinen Rezepten und Anweisungen zu vernichten.«
»Was?« Meine Wangen fühlten sich auf einmal eisig an. Ich merkte, wie meine Beine zitterten und musste mich hinsetzen.
Martha tätschelte mein Bein. »Meine Liebe, was erwarten Sie? Dass ich etwas, was die Welt in ihren Grundfesten erschüttert, aus purer Sentimentalität aufbewahre?« Sie sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Ich bin zwar manchmal etwas gefühlsduselig, aber deswegen kann ich trotzdem vollkommen klar denken. Wenn man die Übersetzung des Voynich-Manuskripts gelesen hat, weiß man ungefähr, was zu tun ist. Aber eben nicht genau. Ohne den Anhang mit Rezepten und Ritualanweisungen wird aus der Suche nach Unsterblichkeit eine gefährliche Lotterie. Ein Spiel mit Versuch und Irrtum, und der Einsatz ist das eigene Leben. Das schlimmstmögliche Ergebnis: Man stirbt oder man verwandelt sich in ein Monster.«
Wie Charles Solomon, dachte ich. »Sie haben gesagt, mein Vater wollte seine Erkenntnisse zuerst auf sich und auf Sie anwenden. Wer wäre der Nächste gewesen?«
»Nachtrabe«, sagte Martha, als läge die Antwort auf der Hand.
»Aber warum? Sie ist das mächtigste Nachtgeschöpf, das existiert. Wenn sie tatsächlich existiert.«
»Oh meine Liebe,
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