Dark Inside (German Edition)
spritzen. Er hatte jeden Sinn für die Realität verloren. Er musste denken, er musste sein Gehirn dazu bringen, wieder zu funktionieren. Wenn er nicht bald etwas unternahm, würden sie unten fertig sein, dann war er der Nächste. Doch irgendetwas in ihm schaltete einfach ab. Er konnte nichts tun, nur vor dem Spiegel stehen und sein nasses Gesicht anstarren. Braune Augen glotzten ihn an. Er hob die Hand und zupfte an ein paar fettigen Haarsträhnen herum.
Sah so ein Feigling aus?
»Was zum Teufel machst du da?«
Er wollte schreien, doch Evans legte ihm blitzschnell die Hand auf den Mund. Wieso war ihm nicht aufgefallen, dass das angrenzende Schlafzimmer ebenfalls eine Tür zum Bad hatte?
»Ich … ich kann nicht. Fass mich nicht an. Es ist alles okay, Mann, alles okay.« Die Worte strömten einfach so aus seinem Mund, ohne Sinn, ohne Rhythmus. Er stammelte.
Evans gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Reiß dich zusammen!«
Es funktionierte. Der brennende Schmerz auf seiner Wange sorgte dafür, dass sein Körper wieder zum Leben erwachte.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, log er.
Evans antwortete nicht. Er drehte sich um und ging wieder in das zweite Schlafzimmer, in dem die Mutter auf der Bettkante saß, ihr halb totes Kind in den Armen wiegte und ihm zuflüsterte, dass alles wieder in Ordnung komme.
»Wir müssen hier raus!«, rief Evans. Er ging an der Mutter vorbei und sah zum Fenster hinaus. »Wir müssen auf das Dach klettern.«
»Das kann ich nicht«, murmelte die Frau. »Wir können nicht. Wir sind nicht stark genug.«
»Ich werde ihn tragen«, entgegnete Evans.
Michael sah ihn verärgert an. Evans übernahm die Führung. Einfach so. Er musste sich nicht übergeben, er verlor nicht die Kontrolle über seinen Körper. Er behielt die Nerven.
»Wir könnten uns verstecken«, schlug Michael vor. »Sie wissen vielleicht gar nicht, dass wir hier oben sind.«
»Bist du bescheuert?«, fuhr Evans ihn an.
Michael starrte wütend zurück.
Mit einem lauten Knall warf sich jemand gegen die Tür. Die Mutter schrie auf und drückte ihr Kind so fest an sich, dass es fast erstickt wäre. Vom Flur her drang ein tiefes, kehliges Fauchen zu ihnen herein, dann rüttelte jemand am Schloss, dass es wackelte.
Ein zweiter Knall.
Ein dritter.
Die Tür ächzte und stöhnte unter dem Gewicht. Sie kamen.
Evans konnte das Fenster nicht öffnen. Er zog mit aller Kraft daran.
»Hilf mir!«, brüllte er Michael zu.
Das Holz der Tür zersplitterte.
Er wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht so.
Die Tür gab nach. Die Hetzer stürmten herein. Es waren vier: drei Männer, eine Frau. Zwei von ihnen hielten sich an den Händen, als wären sie zwei Irre in den Flitterwochen. Von ihrer Kleidung tropfte Blut auf den Boden und sie grinsten wie wilde Hyänen, die ihre Beute eingekreist hatten.
Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau. Sie dürfen jetzt die Gäste töten.
Der Gedanke war so lächerlich, dass Michael fast hysterisch wurde.
Die Entscheidung war ganz einfach. Im Grunde genommen hatte er gar keine Wahl, er zog lediglich das Leben dem Tod vor. Michael ging wieder ins Bad, knallte die Tür hinter sich zu und sperrte ab.
Das Letzte, was er sah, war der Ausdruck auf Evans’ Gesicht. Als sich ihre Blicke trafen, verengten sich Evans’ Augen zu schmalen Schlitzen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Abscheu. Bedauern. Nicht wegen der Hetzer.
Seinetwegen.
Verräter.
Er hatte keine Zeit mehr, es sich anders zu überlegen. Einer der Hetzer warf sich bereits gegen die Tür zum Bad. Michael hatte nur noch Sekunden, um zu handeln. Er drehte sich um und rannte zum Fenster im Schlafzimmer. Auch dieses Fenster ging nicht auf. Es musste eine Art Verschluss geben, den er übersah. Danach zu suchen, würde viel zu lange dauern. Auf dem Nachttisch neben dem Bett stand ein großer Wecker. Michael packte ihn und warf ihn durch die Scheibe. Dann hob er eines der Kissen vom Boden auf und drückte damit die Scherben aus dem Fensterrahmen.
Evans brüllte etwas. Das Kind weinte. Laute Schreie, die abrupt verstummten. Evans rief wieder etwas, doch Michael konnte die Worte nicht verstehen. Irgendetwas rumste im anderen Zimmer mit voller Wucht gegen die Wand. Ein Gemälde über dem Bett fiel krachend herunter und landete in dem blutigen Laken.
Michael kletterte auf das Dach hinaus, kroch auf allen vieren bis zum Rand und sprang, ohne einen Blick nach unten zu werfen. Als er den Boden unter seinen Füßen spürte, rollte er sich
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