Dark Love
in dein Zimmer und da bleibst du auch. Du wirst dich nicht rühren , bis wir es dir sagen. Je weniger Leute wissen, dass du zu Hause bist, desto besser.«
Ich senkte den Kopf und wir fuhren schweigend weiter.
Die Straße vor unserem Haus war wie ausgestorben. Ich stieg aus der Kutsche. Schneeflocken umtanzten mein Gesicht und ich erinnerte mich wieder daran, dass morgen Weihnachten war. Die Straßen sollten voller geschäftiger, freudig erregter Passanten sein. Es hätte Betriebsamkeit herrschen müssen, auch ohne die Flüchtlinge. Stattdessen war die Stadt so abweisend und leer wie ein Friedhof. Die Fenster in den Häusern um uns herum waren dunkel und grinsten uns wie schwarze Zahnreihen an. Die Anzeigetafeln schwiegen.
»Wo sind sie alle?«, fragte ich.
»Bevor wir losgefahren sind, um dich zu holen, ist in der ganzen Straße der Strom ausgefallen«, antwortete meine Mutter und nahm meine Hand, um mich die Stufen hinauf zur Haustür zu führen. Sie schloss auf und schob mich umstandslos hinein.
Im Haus war es dämmerig, das einzige Licht kam von einer Lampe in der Küche. Meine Mutter drängte mich in diese Richtung. Mein Vater verschwand am Ende des Korridors in der Bäckerei, vielleicht, um sich mit den Weihnachtsbestellungen zu beschäftigen, falls sie denn noch jemand abholen würde.
Isambard saß am Küchentisch. Als ich eintrat, sah er auf und musterte mich mit einer solchen Feindseligkeit, dass ich beinahe schon wieder die Fassung verloren hätte. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass ich mit meiner Tat auch seine Chancen endgültig zunichtegemacht hatte. St. Arkadien war jetzt für immer aus seiner Reichweite gerückt.
Zum ersten Mal tat er mir wirklich leid.
Niemand sprach mit mir. Meine Mutter bereitete ein einfaches Essen zu. Ich aß langsam, aus Angst, es vielleicht nicht bei mir behalten zu können. Schließlich stampfte Isambard die Treppe hinauf in sein Zimmer und ließ mich allein am Tisch sitzen. Kurz darauf ging auch ich.
Der Weg hinauf in mein Zimmer war mir genauso vertraut, wie er es immer gewesen war, aber ich fühlte mich dennoch fremd. Ich stellte die Öllampe, die ich mitgenommen hatte, auf meinem Frisiertisch ab, sodass das Licht den ganzen Raum erhellte, und ging dann ans Fenster. Kalte, frische Luft strich über mein Gesicht. Ich schloss die Augen und genoss sie.
Ich sollte ein Bad nehmen, mich bettfertig machen und schlafen gehen. In der Zelle war ich immer nur kurz eingenickt, hatte manchmal die Augen geöffnet und nicht gewusst, was während der letzten Minuten geschehen war, mehr nicht. Die Erschöpfung machte alles noch schlimmer. Ich war nicht mehr in der Lage, meine Gefühle zu kontrollieren, und jedes Wort, jeder Blick von meiner Familie verwandelte sich in eine dreifache Anklage.
Doch tief in meinem Herzen wusste ich, dass meine Eltern mich nicht hassten. Ihre Zuneigung war trotz allem noch immer groß genug, um mich wieder aufzunehmen, wenn auch nur, um mir einen Unterschlupf zu gewähren. Sie hassten mich nicht.
Sie fürchteten sich vor mir.
Einen Augenblick lang schrie und tobte das gute Mädchen in mir. Wir würden uns noch mehr anstrengen, mehr denn je. Wir würden folgsam, still und schamhaft sein. Vielleicht konnten wir der Verbannung entgehen, wenn wir es nur versuchten .
Versuchen, versuchen, immer nur versuchen. Mein ganzes Leben war ein einziger Versuch. Nichts war mir sicher.
Ich öffnete die Augen.
Da bemerkte ich eine Bewegung in dem steinernen Hof unter mir, der von unserem Haus und von drei weiteren umschlossen wurde und in dem gerade mal ein kleiner Baum und ein paar Bänke Platz fanden. Ich hielt inne, die Hand auf dem frostüberzogenen Schieberahmen, und beobachtete, was dort unten vor sich ging.
Die Hintertür des Gebäudes, das in der Straße hinter unserem Haus stand, öffnete sich und ein Mann trat heraus. Ich erkannte ihn als einen unserer Nachbarn, Emanuel Delgado. Er war Fischhändler und ich mochte ihn. Jetzt war sein Gesicht sehr blass und er bewegte sich auf eine Art, die ich nur als »kopflastig« beschreiben konnte. Es sah aus, als hätten seine Beine Mühe, den Körper aufrecht und in der richtigen Position zu halten. Sein Oberkörper war nach vorne gebeugt, seine Schultern merkwürdig verkrümmt. In einer Hand hielt er einen Kohleneimer.
Er ging auf die Mulde in der Mitte des Hofes zu, in der wir alle die Kaminasche entsorgten. Genau das tat auch er jetzt, sehr langsam und umsichtig, als hätte er Angst, den Eimer fallen
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