Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dark Love

Dark Love

Titel: Dark Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Habel
Vom Netzwerk:
die schmale harte Holzbank und weinte. Die meisten meiner Zellgenossinnen beachteten mich überhaupt nicht. Vielleicht waren sie an so etwas gewöhnt.
    Ich wollte keinen Menschen verletzen müssen. Das war es, was ich mir wieder und wieder vorbetete – sie waren Menschen . Sie waren keine Monster oder so etwas Dummes, sie waren kranke Menschen und mein Gott, ich hatte diese Frau umgebracht, ich hatte sie umgebracht, ich hatte sie umgebracht. Dann verschwamm die Welt wieder. Ich schlang die Arme um meinen Körper und betete.

    Gegen Mittag war ich nicht mehr die Einzige, die sich Sorgen machte. Langsam stand eine meiner Zellgenossinnen nach der anderen auf und setzte sich neben mich. Gemeinsam beobachteten wir das Mädchen, dessen Zustand sich immer weiter verschlechterte. Alle schienen instinktiv zu begreifen, was vor sich ging, und niemand versuchte, ihr zu helfen. Ein paar der Frauen schlangen sich ihre Schals über die Münder.
    »Was machen wir, wenn sie ausrastet?«, fragte eine pockennarbige Frau mit tiefer Stimme. Sie bekam keine Antwort.
    Bitte, nein. Nicht noch einmal.
    Endlich erhob sich eine der Stadtstreicherinnen, eine alte Frau, die in schäbige Lumpen gehüllt war, und begann mit einer stoffumwickelten Faust gegen die Gitterstäbe zu schlagen. Mit krächzender Stimme versuchte sie, den Tumult der vor der Tür versammelten Zivilisten zu übertönen.
    »Wir ham hier ’n krankes Mädel, richtig krank!«
    Ich beobachtete, wie sich die Brust des Mädchens hob und senkte.
    »Warum steckt ihr ’n krankes Mädel hier rein, ihr Idioten? Die gehört in ’n Krankenhaus!«
    Ihre Brust senkte sich.
    »Hörste mich? Ramirez, ich red mit dir! Willste, dass wir’s alle kriegen? Is es das?«
    Sie hob sich nicht wieder.
    Sie war tot.
    Gott sei Dank. Gott sei Dank. Nie hätte ich gedacht, dass ich dem Himmel jemals für den Tod eines Menschen danken würde, aber Tote konnten keine Lebenden angreifen. Es war besser, dass sie tot war, ohne dass jemand sie hatte umbringen müssen. Es war schrecklich, aber es war besser so.
    Die alte Frau kam jetzt richtig in Fahrt. »Hier ist ’n krankes Mädchen!« , brüllte sie.
    »Sie ist tot«, sagte ich. Die Frau hörte mich nicht und keifte weiter.
    Die Leute, die sich in der Station versammelt hatten, nahmen ihren Ruf auf. Die meisten rannten hinaus auf die Straße und verwandelten sich wieder in einen schreienden, stampfenden Mob. Die Frauen in der Zelle dagegen blieben ruhig. Vielleicht, weil uns klar war, dass wir ohnehin nirgends hinkonnten.
    »Schwachköpfe«, seufzte eine Frau. »Benehmen sich wie kleine Mädchen, die Angst vor ihrem eigenen Schatten haben.« Die Frau, die hinter ihr saß, lachte nervös.
    Langsam glitt ich von der Bank und trat einen Schritt näher an die Leiche des Mädchens heran. Ich hatte mein Taschentuch während der letzten Stunden in den Händen gedreht und geknotet. Jetzt legte ich das nasse und schmutzige Ding als Zeichen des Respekts über ihr Gesicht. Ich glaube, ich wollte sie um Verzeihung bitten, weil ich ihren Tod mit solcher Erleichterung begrüßt hatte.
    Wie durch Magie schwebte plötzlich eine Bahre durch die Türen vor der Zelle, begleitet von zwei Sanitätern und dem Polizisten mit dem Muttermal.
    Ich drehte mich um, als sie die quietschende Zellentür öffneten. »Ich dachte, Sie wären weggegangen!«
    Der Polizist schüttelte den Kopf und Schweiß spritzte aus seinem Haar. »Nein! Die Krankenhäuser sind überfüllt.«
    »Sie ist tot. Es ist zu spät.« Ich warf einen Blick über die Schulter zu dem armen Mädchen.
    Plötzlich wölbte sich das Taschentuch über ihrem Mund nach innen, als sie rasselnd Atem holte.
    Ich schrie und fiel rückwärts wieder auf die Bank, meine Hände griffen haltsuchend nach den Gitterstäben hinter mir.
    »Sie ist infiziert!«, hörte ich einen der Sanitäter schreien. »Schaffen wir sie hier raus, sofort !«
    Der Sanitäter zog das Mädchen an den Armen hoch und zerrte sie nicht eben sanft auf die Bahre. Mein Taschentuch glitt von ihrem Gesicht und landete auf dem Boden. Die Sanitäter schafften es, sie an Handgelenken und Knöcheln festzuschnallen, bevor sie zu sich kam.
    Sie war nicht tot, ganz und gar nicht. Sie fauchte und schnappte und kämpfte gegen ihre Fesseln, während die Frauen um mich herum jammerten und beteten.
    »Herr Jesus«, flüsterte der Polizist.
    Ich starrte auf das sich hin und her werfende Mädchen, dessen Haut unter den Fesseln schon ganz wundgescheuert war. Sie hatte nicht

Weitere Kostenlose Bücher