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Dark Love

Dark Love

Titel: Dark Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Habel
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und versuchen, auf dem Weg noch ein Taxi zu bekommen.«
    »Mutter, Vater …«, begann ich. Ich wollte ihnen sagen, dass wir herausfinden mussten , was zurzeit geschah, dass wir uns überlegen mussten , wo wir hingehen, was wir tun sollten, aber die Worte blieben mir in der Kehle stecken.
    Mein Vater nahm mich bei der Hand und führte mich die Straße hinab.
    Der Weg schien kein Ende zu nehmen, obwohl wir tatsächlich nur etwa zwanzig Minuten dafür brauchten. Jeder Schatten wurde zu einem Infizierten, der darauf lauerte, mich anzugreifen, um mir mein Fleisch und meinen Atem zu stehlen. Ich rannte beinahe hinter meinen Eltern her und versuchte, ihnen körperlich so nahe wie nur möglich zu bleiben, ich ließ keinen noch so geringen Abstand zwischen uns zu.
    Wir kamen zwar an einigen Menschen vorbei, sahen aber kein leeres Taxi. Allen, denen wir begegneten, brachten wir kollektives Misstrauen entgegen; ich sah, wie sich unsere Köpfe in perfekter Synchronizität nach ihnen umwandten. Nach einer Weile hielt meine Mutter sowohl Issy als auch mich an den Schultern und ich fühlte mich beinahe, als hätten sie mir verziehen. Wenigstens hatte ich wieder das Gefühl, dazuzugehören.
    Schon bald standen wir auf unserer Eingangstreppe. Mein Vater zog den Haustürschlüssel von seiner Uhrenkette und die Hand meiner Mutter entspannte sich. Wir hatten es geschafft. Alles war in Ordnung.
    Und dann sah ich das Mädchen.
    Ihre kleine Gestalt zog meine Aufmerksamkeit auf sich, während ich darauf wartete, dass mein Vater die Tür öffnete. Mein Herz füllte sich mit Grauen, als ich mich umdrehte und sie langsam auf uns zukommen sah. Sie war erst fünf Jahre alt und ihre Bewegungen waren stockend und ungelenk. Ihre Haut wirkte fahl, in ihren Augen schwammen weiße Schlieren und ganze Büschel ihres hellbraunen Haares fehlten. Sie trug ein langes, schlichtes Kleid mit einer Flickentasche vor der Brust.
    Ich schmeckte Galle und wich zurück. Mein Fuß blieb an der nächsten Treppenstufe hängen und ich fiel gegen Isambard. Er hielt sich an der Jacke meiner Mutter fest.
    »Pam, was soll … o Gott !« Issy begann zu kreischen und kletterte praktisch über meine Mutter, um näher zur Tür zu kommen. Meine Eltern wirbelten herum und schrien auf.
    Das kleine Mädchen blieb mitten auf der Straße stehen und sah uns mit beinahe greifbarem Schmerz in den Augen an. Dann begann sie zu weinen, mit kleinen Schluchzern, die ihren gesamten Körper schüttelten.
    Als ich das Weinen hörte, erkannte ich sie. Ich hatte es schon einmal gehört, im Sommer auf dem Markt, als alle Fenster offen gestanden hatten.
    »Jenny Delgado?«, flüsterte ich.
    » Mach die Tür auf, mach die Tür auf!« , schrie Isambard.
    »Ich kann meine Familie nicht finden!«, jammerte Jenny.
    Sie sprach.
    Ich hatte zuvor noch keinen der Infizierten sprechen hören.
    Ich blieb mit eingefrorenen Gelenken sitzen und versuchte, die Situation zu begreifen. Das Mädchen war offensichtlich krank, aber sie konnte sprechen. Sie griff uns nicht an.
    »Bist du Jenny Delgado?«, fragte ich etwas lauter.
    Sie nickte, noch immer weinend. Sie kannte also auch noch ihren Namen. Vielleicht gab es noch Hoffnung für sie. Ich musste sie zu ihrer Familie zurückbringen. Sie musste ins Krankenhaus, zu einem Arzt.
    Warum ich mich so entschied, kann ich nicht erklären. Vielleicht ließ Gott an diesem heiligen Tag das Licht der Gnade durch mich leuchten. Vielleicht hatte aber auch nur der Alkohol, mit dem ich mich am vergangenen Abend betäubt hatte, ein paar Hirnzellen zu viel abgetötet. Ich weiß es nicht.
    Langsam stand ich auf. »Geht rein und verschließt die Tür. Ich bringe sie nach Hause.«
    »Das wirst du nicht tun, Pamela«, entgegnete meine Mutter, die selbst so aussah, als wäre sie den Tränen nahe. »Nicht noch einmal. Geh hinein.«
    »Nein, ich bringe sie nach Hause.«
    »Sie ist infiziert!«
    »Das sehe ich, Mutter. Und deshalb muss sie nach Hause .«
    »Pam, bist du so blöd oder tust du nur so?«, fragte mein Bruder ehrfürchtig.
    »Sie ist ein kleines Mädchen!« Ich wandte mich zu meiner Familie um. »Sie ist nur ein kleines Mädchen und sie hat Angst! Genau wie wir alle!« In meinem Kopf spielte sich noch einmal die Szene vom Vortag ab. Ich sah ihren Vater und ihre Mutter, die an der Tür auf ihn gewartet hatte. Jetzt bemerkte ich, was mir gestern entgangen war: das Fehlen von Panik, das Fehlen von Gewalt.
    Vielleicht war doch alles in Ordnung. Vielleicht waren sie noch immer

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