Dark Love
damit ich aufhörte zu weinen, nachdem Nora dorthin geschickt worden war – fort von mir. Es kostete sie schließlich nichts, in diesem Punkt nachzugeben, und sie hätten sich nicht träumen lassen, dass dabei tatsächlich etwas herauskam. Mein Wunsch, nicht von meiner Wahlschwester getrennt zu werden, hatte unser aller Leben verändert.
Nora und ihre Mutter (und auch Dr. Dearly, der aber nie zu Hause war) lebten früher in einem Stadthaus auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Bäckerei meines Vaters. Ich erinnerte mich, auch wenn ich damals noch sehr klein gewesen sein musste, wie sie mehrmals am Tag hereingeschlichen kam, um die Torten und Kekse zu bestaunen. Ich war eifersüchtig auf sie gewesen, weil sie die hübscheren Kleider trug und Naturlocken hatte, wie ich sie mir in diesem Alter mehr als alles andere auf der Welt wünschte. Tatsächlich riss ich ihr, als unsere Mütter uns einander vorstellten, eine Faust voll Haare aus, um zu sehen, ob sie echt waren. Woraufhin sie mir eins auf die Nase gab.
Es war Liebe auf den ersten Kampf.
Nach diesem ersten brutalen Treffen spielten wir regelmäßig miteinander, gingen zusammen zur Grundschule und lebten praktisch auch im Haus der jeweils anderen. Selbst als Dr. Dearly gesellschaftlich aufstieg und seine Familie in die unterirdische Villa zog, sahen wir uns weiterhin täglich. Ein Tag ohne die andere war unvorstellbar. Die längste Zeit, die wir getrennt voneinander lebten, waren die zwei Monate ab dem Tag, an dem sie zur Schule geschickt wurde, bis zum Tag meiner Annahme dort. Es waren die zwei unerträglichsten Monate meines kurzen und ereignislosen Lebens gewesen.
Und hier war ich nun, allein, ohne sie – und die Möglichkeit einer endlosen Zukunft ohne Nora hing drohend über mir wie ein Damoklesschwert, das jederzeit auf mich herabstürzen konnte. Es wäre nicht halb so schlimm gewesen, wenn der Bote, der am vergangenen Morgen steif und mit steinerner Miene zu unserem Haus gekommen war, von ihrem Tod berichtet hätte. Dann wäre es einfach das Ende gewesen, ein letztes Kapitel, und ich hätte nur noch trauern oder sie noch im Jenseits verfluchen können.
Nichts zu wissen und nichts tun zu können war viel schlimmer. Jedes Mal, wenn dieses schleichende Gefühl der Ungewissheit mich übermannte, wollte ich mir die Haare raufen und schreien.
Meine Mutter setzte sich in ihren abgenutzten alten Schaukelstuhl und nahm ihre Stickarbeit auf. Ihre Hände waren rau und schwielig von der Arbeit; sie waren nicht an den feinen Zeitvertreib vornehmer Damen gewöhnt. Das Taschentuch, an dem sie jetzt arbeitete, war dasselbe, an dem sie schon seit drei Jahren stickte. »Ich bin genauso besorgt, wie du es bist, aber das ist kein Grund, sich wie eine Besessene aufzuführen. Bitte Gott um Stärke.«
Langsam schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Mein Körper schien mir nicht mehr zu gehorchen. Seltsame Phantomschmerzen wallten auf und rissen an mir – als wäre Nora ein Teil meines Fleisches gewesen, der mir herausgeschnitten worden war. Ich folgte dem Rat meiner Mutter. Ich betete zu Gott, damit er mitfühlend auf uns hinabblickte.
Ich betete zu Gott, damit er mir Nora zurückbrachte.
An diesem Nachmittag erschienen drei uniformierte Ermittlungsbeamte des Militärs, um mit mir zu sprechen. Ich saß neben meiner Mutter auf dem zu prall gestopften Satinsofa, dem neuesten Prunkstück unserer Wohnzimmereinrichtung. Daneben stand unser Weihnachtsbaum, die Wachskerzen daran nicht entzündet. Elektrizität gab es nur in der Küche und in der Bäckerei.
Die Ermittler waren müde aussehende Männer mit tabakfleckigen Händen. Während ich ihre Fragen beantwortete, filmten sie mich mit einer tragbaren Kamera. Sie beschuldigten mich nicht, sie schienen nicht einmal besonders an meinen Antworten interessiert zu sein. Vermutlich stand ich auf der Liste ihrer Verdächtigen recht weit unten.
Nein, ich hatte nichts mehr von Nora gehört, seitdem sie und ihre Tante mich zu Hause abgesetzt hatten. Ja, normalerweise bekam ich häufig Anrufe oder E -Mails von ihr, aber jetzt hatte ich keine mehr erhalten. Ja, sie durften sich die Daten von meinem Telefon herunterladen. Nein, sie schien nicht bedrückt gewesen zu sein, jedenfalls nicht mehr als sonst auch, sogar eher weniger, als sie es zurzeit normalerweise war.
»Es schien ihr etwas besser zu gehen«, sagte ich.
»Besser?«, fragte einer der Ermittler nach.
»Sie hat letztes Jahr ihren Vater
Weitere Kostenlose Bücher