Dark Love
einen Elternabend besuchen oder mit mir shoppen gehen sollte. Aber er hätte mir doch eine Nachricht schicken oder eine kurze Botschaft hinterlassen können, irgendetwas, um mich wissen zu lassen, dass er nicht wirklich tot war !«
»Nora, ich weiß auch nicht, warum er nichts gesagt hat, aber … was auch immer er getan hat, er hat es getan, weil er dachte, es wäre das Beste für dich. Ich meine, bei mir ist es auch schon Jahre her und ich habe meiner Mutter auch nicht geschrieben.«
»Und er hat es meiner Mutter nie gesagt. Er hat es ihr nie gesagt und er hat sie infiziert !«
»Es tut mir leid.«
»Was hat er hier überhaupt getan ?«
»Er hat an einem Impfstoff gearbeitet.«
»Oh, jetzt macht er sich also Gedanken darüber.«
»Nora …«
Es dauerte eine Weile, bis ich ein simples »Bin gleich zurück« herausgebracht hatte.
»Nora?« Bram erhob sich auf die Knie.
Ich sprang auf und ging von der Tür weg. Ich musste laufen. Ich musste atmen. In mir kämpften so viele widersprechende Emotionen – Hass, Wut, Freude, Angst –, dass ich das Gefühl hatte, in meinem Kopf gäbe es nicht genug Raum dafür. Ich musste also Platz schaffen.
Dafür würde ich länger als ein paar Minuten brauchen.
»Nora?« Brams Stimme bekam wieder diesen besorgten Klang.
Ich kehrte zur Tür zurück. »Ich brauche Zeit. Bitte, kannst du nicht einfach … gehen? Gehen und erst morgen früh wiederkommen?«
»Ist das deine letzte Frage?«, wollte er wissen und senkte die Augen auf die Kette. »Weil, ich weiß, wie unheimlich diese Situation für dich sein muss – glaub mir, das weiß ich wirklich –, aber wir haben nicht viel Zeit. Mein Vorgesetzter wird sehr bald zurückkehren und mein Zimmer ist der letzte Ort, an dem er dich sehen will.«
»Na ja, es war eher eine Aufforderung.« Ich war noch immer steif vom langen Sitzen auf dem Boden und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Kaugummi vollgestopft – eine Mischung aus Informationsüberflutung und Müdigkeit. »Ich glaube, du könntest es ohnehin nicht verantworten, wenn ich sozusagen zombiescheu hier herauskomme.«
Er nickte. »In Ordnung.« Dann fragte er zaghaft, als hätte er Angst, zurückgewiesen zu werden: »Kann ich dir noch etwas geben, bevor ich gehe?«
»Ja, wenn es durch den Türspalt passt und während der letzten acht Jahre nie am Leben war.«
Bram lachte. »Vom Kopf mal abgesehen musst du dir keine Sorgen um wiederbelebte Körperteile machen.«
Der alte Umschlag, den Bram für mich holte, war versiegelt. Ich wusste nicht, was er enthielt, bis ich die Tür geschlossen und den Umschlag mit meinen eingerissenen Nägeln geöffnet hatte, vorsichtig, als ob ich instinktiv erwartete, ein Zombiesilberfisch könnte mich anspringen. Nachdem ich das Papier im Innern aufgefaltet hatte, erkannte ich die geschwungene Handschrift meines Vaters. Unten auf dem Blatt war eine kleine, etwa zwei Zentimeter lange Silberkapsel befestigt – ein veralteter Videozylinder. In neuere Abspielgeräte passten die nicht einmal mehr.
Ich zerknüllte den Brief und warf ihn wütend auf Brams Schreibtisch. Ich konnte ihn nicht lesen, nicht jetzt. Ich war noch zu sehr mit der Tatsache beschäftigt, dass mein Vater ganz offensichtlich noch schreiben konnte.
Ich war noch zu sehr damit beschäftigt, dass er lebte – auch wenn es ein sehr merkwürdiges Leben war – und nie versucht hatte, mich das wissen zu lassen.
Bram tat, worum ich ihn gebeten hatte, und hielt sich fern. Der einzige Mensch, von dem ich an diesem Tag hörte, war Dr. Elpinoy. Jedes Mal, wenn er an meiner Tür vorbeikam, versuchte er, ein Gespräch zu beginnen, aber ich antwortete nicht. Ich verbrachte den Tag damit, abwechselnd auf Brams Bett zu liegen und auf seinem Teppich auf und ab zu tigern, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Die Zeiger schienen über das Ziffernblatt zu rasen.
Verwirrt und überwältigt, wie ich war, brauchte ich eine Weile, bis ich bemerkte, dass ich inzwischen nicht mehr meinen Vater verfluchte, sondern mit dem Gedanken spielte, das Zimmer zu verlassen.
Die Idee war sowohl dumm als auch unwiderstehlich. Mir schoss durch den Kopf, wie dämlich das wäre, und ich sah einen weißhaarigen Mann namens Darwin vor mir, der schon sehr bald im Jenseits mit dem Finger auf mich zeigen und mich auslachen würde. Trotzdem dachte ich ernsthaft darüber nach. Ich überlegte mir, wie hoch die Chancen wohl standen, bei lebendigem Leib zerfleischt zu werden.
Es fiel mir schwer,
Weitere Kostenlose Bücher