Dark Love
alle von Draufgängern, die sich in die frostige Wildnis aufmachten) und ein großes, illustriertes Biologiebuch. Letzteres nahm ich in die Hand und öffnete es. Es war zerschlissen, die Seiten waren voller Eselsohren und von oben bis unten vollgekritzelt. Anscheinend hatte er viel Zeit damit verbracht, sich die tief liegende Muskulatur einzuprägen.
Sollte gleich unter dieser liegen, hatte er an den Rand geschrieben. Versuchen, mit den Fingern zu fühlen?
Igitt.
Ich legte das Buch zurück und öffnete die Schubladen. In der obersten lagen Stifte, eine Schere und ein Spitzer in Form eines Globus. In der darunter lagen Schriftstücke. Ich fuhr mit dem Finger an den Seitenkanten entlang und zog alles aus dem Stapel, was mir interessant erschien. Als Erstes fielen mir seine Einberufungspapiere von vor zwei Jahren in die Hände. Dann fand ich einige Ausschnitte aus Punkzeitungen und betrachtete sie, von der fremdartigen Textur des Papiers und der Schriftart ebenso fasziniert wie von ihrem Inhalt. Sie berichteten von Dingen wie Lebensmittelknappheit und Rationalisierungen, Wettervorhersagen und Kirchenfesten: »Mrs. Moreaus Hochzeitskuchen kam wie immer gut an.«
Als ich die Ausschnitte zurücklegte, fand ich in der Schublade ein weiteres Buch. Ein digitales Tagebuch.
Ich nahm es heraus und schlug es auf. Der Bildschirm erhellte sich und ein Bild in Sepia erschien. Darauf war ein junger, muskulöser Mann zu sehen, der mit zwei kleinen Mädchen in schlichten Schürzen an den Händen vor einem ordentlichen Holzhaus stand. Die Auflösung war nicht sehr hoch, aber ich fragte mich, ob das wohl Bram war. Ich betrachtete das Foto eine Weile lang – die Frisur stimmte –, bevor ich es aufgab und wieder auf den Bildschirm tippte.
»Passwort?«, verlangte das Ding mit einer weiblichen Stimme. Vor Schreck machte ich einen Satz.
»Ähm …« Ich hatte keine Ahnung. Anstatt einfach aufzugeben, entschied ich, dass ich genauso gut einen Versuch wagen könnte. »Zombie?«
Es piepste mich tadelnd an. Nein.
»Untot? Bram. Abraham? Captain? Bing Crosby!«
Ich versuchte es mit allen Wörtern, die ich inzwischen mit dem Menschen, den ich als Bram kannte, in Verbindung brachte, aber keines davon funktionierte. Mit einem Seufzen schloss ich das Tagebuch und legte es zurück in die Schublade unter die anderen Papiere. Wir konnten ja später weiterspielen.
Schließlich öffnete ich seinen Schrank. An der Innenseite der Tür war ein mannshoher Spiegel angebracht.
Ich sah aus wie eine Vogelscheuche.
Ich verbrachte zehn Minuten damit, mein Korsett in Ordnung zu bringen und an dem blauen Kleid herumzuzupfen – es war für jemanden mit größeren Brüsten gemacht worden, als ich sie jemals besitzen würde, und beulte sich vorne aus –, dann lockerte ich mein feuchtes Haar auf. Ich hatte noch nie Make-up getragen, aber ich biss mir auf die Lippen und kniff mir in die Wangen, um etwas Farbe zu bekommen.
Ich kann ja wenigstens mal versuchen, etwas lebendiger auszusehen als die ganzen Leichen hier.
Während ich mein Spiegelbild betrachtete, kam mir eine weitere Idee.
Ich holte die Schere aus Brams Schreibtisch und machte mich an die Arbeit. Ich schnitt den Saum des Kleides auf Wadenlänge ab und verwendete den abgetrennten Stoffstreifen, um mir die Haare zurückzubinden. Dann schnitt ich die Enden zurecht und warf die Reste in den Abfalleimer. Tada.
Ich war ziemlich stolz auf mich und hob die Augen wieder zum Spiegel. Als ich mein Werk dann sah , dämmerte es mir, dass niemand außer mir selbst in den letzten Jahren so viel von meinen Beinen zu Gesicht bekommen hatte. Wie alle Mädchen hatte ich mit fünfzehn Jahren begonnen, lange Röcke zu tragen. Ich fühlte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg, und versuchte mit einem Kopfschütteln, das Gefühl zu vertreiben. Es war ein notwendiges Übel, in einem kürzeren Kleid konnte man sich viel besser bewegen. Man könnte es einen taktischen Vorteil nennen.
Dann, nachdem der kleine Verwandlungstrick erledigt war, ging ich dazu über, Brams Kleiderschrank zu durchstöbern. Die meisten seiner Kleider entsprachen der Standardausrüstung. Ich sah Arbeitsanzüge in gräulichen Tarnfarben, schwarze T -Shirts. Und eine schwarze Uniform wie die, in der ich ihn auf dem Dach gesehen hatte. Die letzte in der Reihe musste seine Ausgehuniform sein. Sie war aus schwarzer Wolle und bestand aus einem Jackett mit einem hohen Mandarinkragen und Hosen mit roten Streifen an den Außenseiten der
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