DARK MISSION - Fegefeuer
hinunter.
Ihre nackten Füße sanken in seltsam weichen Sand. Sie hob den Kopf und seufzte vor Überraschung und Begeisterung, so sehr genoss sie den Anblick, der sich ihr bot.
War sie, während sie schlief, in den Himmel gelangt?
Wie ein Tal in Miniaturausgabe war die Bucht ein Juwel, das in die Tiefe des Alten-See-Grabens eingebettet lag. Ein alter Holzsteg ragte in das unglaublich grüne Wasser, und über der spiegelglatten Wasseroberfläche lag Dunst.
Es war warm, viel wärmer, als Jessie erwartet hatte. Sonnenlicht fiel durch den Dunstschleier hinunter in die Bucht. Jessie schob ihr Gesicht diesem fernen Himmel und seiner Sonne entgegen, schloss die Augen und atmete tief durch. Die Luft roch nach etwas Warmem, versetzt mit einem Hauch von Schwefel als Unterton, ja etwas geradezu Hitzeabstrahlendem. Rauchig wie Holz, das zu schwarzer Kohle verbrannt war. Trotzdem, trotz des Rauchigen und Schwefeligen in der Luft, schien die Luft besonders frisch, sogar erfrischend.
Ruhig. Und …
Still. Es war unglaublich still hier. Das geschäftige, chaotische Brummen und Summen einer großen Stadt drang nicht bis in diese Einsamkeit vor. Keine Polizeisirenen, kein Geschrei, keine wilde, laute Musik. Kein ständiges Summen elektrischer Beleuchtungen.
Wie eine Welle durchflutete sie ein Gefühl von Ehrfurcht. Sie biss sich auf die Lippe, als sie den glatten Trittsteinen folgte und die Zeichen erkannte, die jeweils in deren Oberfläche gemeißelt waren. Schutz, Frieden. Himmel, sogar das rituelle Symbol für Heimat und Zuhause!
Dieses Zeichen hatte auch die erste Steinfliese im Wohnzimmer von Jessies Mutter geziert. Sie hatten nur etwa einen Monat dort gelebt, bis ihre Mutter umgebracht worden war.
Heiße Tränen überschwemmten Jessies Augen. Sie blieb auf halbem Weg zu einer von üppigem Grün bewachsenen Steinmauer stehen und rang um Fassung. Alles war irgendwie auf den Kopf gestellt. Sie musste ihr Gleichgewicht wiederfinden, und zwar ehe sie zu Silas ging.
Jessie drehte sich um und beschattete mit einer Hand die Augen.
Und sah es, spürte, wie es an seinen Platz fiel.
Da ist ein grünes Haus unter einem veilchenblauen Himmel.
O Gott! Da war es, das Haus, der Himmel die letzte Prophezeiung. Jessie schlang die Arme um sich und hielt sich umfangen, als ein Schauder wie Eiswasser ihren Rücken hinablief.
Drinnen in diesem Haus lächelt sie, Jessie, aber ihre Augen sind hart und kalt wie Diamanten, und ihre Knochen sind aus gebranntem Ton. Wenn du sie lässt, wird sie dir den Weg zu deinem Tod weisen.
Calebs Stimme hallte deutlich vernehmbar in Jessies Verstand wider, nervös und voller Ungeduld. In ihrer Erinnerung gestikulierte ihr Bruder wild, stritt mit ihr.
Dieses Mal können wir es aufhalten , hatte er immer wieder gesagt, hatte darauf bestanden. Er war in ihrem Rattenloch von Motelzimmer auf und ab getigert, teils aus Wut, teils aus Angst. Mit seinen schmalen Händen hatte er in der Luft herumgefuchtelt, hatte sich unglaublich angestrengt, um seine Schwester von der Richtigkeit seiner Worte zu überzeugen. Nimm die Beine in die Hand, wenn du den Narren siehst! Geh ja nicht hinein in dieses Grab, und, um Himmels willen, Jessie, geh nicht in die Nähe dieses grünen Hauses, und nimm nicht die Hilfe seiner Bewohnerin an!
Jessie versank in einem Meer aus Nebel. Aus Erinnerungen.
Du folgst dem Pfad, den sie dir gewiesen hat, und stehst vor einem geborstenen Becken, vor einem Meer aus Rot. Der Himmel entzündet sich, und du brennst im Feuer und verbrennst, Jessie. Verbrennst bei lebendigem Leib. Du schreist meinen Namen.
Jessie hatte abgewunken. Sie hatte die Prophezeihung lächerlich gemacht und ihrem Bruder nicht geglaubt, hatte ihm ihren ganzen Ärger entgegengeschleudert. Die Jahre, in denen sie nichts anderes getan hatten, als wegzulaufen, sich zu verstecken und sich zu streiten. Jessie war des Ganzen so überdrüssig gewesen. Caleb hatte geschwiegen. So still.
Jessie hatte in der folgenden Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht, sich am Morgen bei Caleb zu entschuldigen. Die ganze Sache mit ihm noch einmal durchzugehen und das Rätsel zu entwirren, alles, nur damit die Schatten verschwänden, die seine Augen mit einem Mal verdunkelten.
Aber am Morgen war Caleb nicht mehr da gewesen.
Jessie starrte auf das hübsche Häuschen vor ihr. Die dicken Balken, aus denen es zusammengezimmert war, alle ein bisschen schief und krumm, waren unbehauen. Das Häuschen war zusammengewürfelt aus diesem und
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