DARK MISSION - Fegefeuer
Top.
Es juckte Jessie in den Fingern, den feinen Stoff anzufassen. »Unmöglich, nein, ich kann doch nicht …«
»Das hat meiner Tochter gehört, früher einmal.« Matilda strich zärtlich über den Stoff. »Darin wirst du dich bei den warmen Temperaturen hier wohlfühlen. Zieh die Sachen an, ich bestehe darauf!«
Wie könnte Jessie das jetzt noch ablehnen? Sie biss sich auf die Unterlippe. Ein Blick in Matildas braune Augen verriet ihr, dass eine Ablehnung gar nicht in Frage kam. »Danke!«, sagte sie, aber runzelte die Stirn dabei. »Matilda, bitte glaub mir, wissentlich will ich dir sicher kein Leid zufügen. Aber es gibt Leute, die wahrscheinlich immer noch hinter mir her sind.«
»Augen vermögen es nicht, jenseits der Klippen zu schauen«, versicherte ihr die alte Hexe. Ob sie besorgt war, vermochte Jessie in ihrem Gesicht nicht zu lesen. Alles, was sie sah, war ein ernstes Lächeln. »Kein Zeichen kann dich hier verraten. Zieh dich jetzt an! Dein hübscher Junge wartet auf dich.« Matilda drehte sich um und verschwanddurch einen schmalen Durchgang. Hinter ihr fiel ein weicher Webvorhang in Regenbogenfarben zurück an seinen Platz.
Vorsichtig stieg Jessie aus dem Bett und stöhnte, als ihr Körper dabei sämtliche Prellungen und Wunden meldete. Viel zu viele. Eilig schlüpfte sie in die schlichte Baumwollunterwäsche, die Matilda ihr bereitgelegt hatte. Dann streifte sie Rock und Top über. Der Rock schwang um ihre Fußknöchel, weiche, schwingende Lagen aus Seide, Leinen und Samt. Das Top fühlte sich herrlich weich auf der Haut an, als sie es glatt strich.
Sie fühlte sich aufgehübscht. Sehr weiblich.
Noch während sie die vielen Schattierungen von Meerblau bewunderte, die in dem Rock vereint waren, kehrte Matilda mit einer Bürste in der Hand zurück. »Du siehst sehr hübsch aus, Liebes. Hier, bürste dir noch das Haar!«
Jessie tat wie geheißen, zuckte aber jedes Mal zusammen, wenn sich die Borsten in einer verfilzten Strähne verfingen und sie das Haar mit den Fingern vorsichtig entwirren musste.
Matilda lächelte. Das Lächeln war voller Wärme. »Na bitte! Bist du nicht bildhübsch?« Jessie errötete, senkte den Blick und fuhr zusammen, als Matilda ihr mit fester Hand unter das Kinn griff. »Hoch das Kinn, mein Kind! So etwas dulde ich hier nicht«, tadelte sie. »Man sagt danke und nimmt, was einem zusteht. Wie ich auch schon deinem Mann gesagt habe: Hier in diesem Haus gibt es keine Unaufrichtigkeit, hier zählt die Wahrheit, nicht falsche Bescheidenheit oder dergleichen!«
»Danke«, entgegnete Jessie, ohne nachzudenken.
»Na bitte! Abendessen gibt es in etwa einer Stunde.« Matilda zeigte auf die dem Durchgang gegenüberliegende Seite des Raums, die in helles Licht getaucht war. Dort trennte eine Theke als Essplatz, aber mit normaler Esstischhöhe, den Wohnbereich von einer sehr einfachen Küche mit gerade dem Nötigsten an Platz und Geräten. Fenster mit verschieden farbigen Scheiben ließen das helle Licht von draußen herein.
Jessie nickte. Aber ihr Verstand war noch mit der Warnung beschäftigt, die Matilda gerade ausgesprochen hatte, spielte mit ihr wie mit einer Murmel, rollte sie hierhin, schnippte sie dorthin. »Keine Unaufrichtigkeit?«, fragte sie. »Du meinst: keinerlei Lügen, oder?«
Die Hexe durchquerte das Zimmer. Sie geht nicht, sie schreitet, dachte Jessie, ganz wie eine Königin durch ihren Palast. »Keinerlei Lügen«, bestätigte Matilda über die Schulter hinweg. »Also pass auf, was du deinem Hexenjäger erzählst!«
Hexenjäger? Scheiße!
Erschrocken hielt Jessie den Atem an und geriet, ohne es nach außen zu zeigen, mächtig in Panik, als Matilda sich wieder zu ihr umdrehte, die Hände auf den Essplatz gestützt. »Tu das ja nicht!«, warnte die alte Hexe, und ihr Blick war unnachgiebig. »Stell mich ja nicht auf die Probe, indem du lügst! Ich weiß, was er ist, wahrscheinlich besser als du. Also pass auf, was du ihm erzählst und was er dir erzählt! Lügen haben hier sehr kurze Beine.«
Keine Lügen. Keine Unaufrichtigkeit. Aber eigentlich hatte Jessie Silas von Anfang an nur belogen … Sie folgte dem Gedanken und fand tief in ihrem Herzen einen Ort, der eiskalt war vor Angst. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
»Sucht euch etwas«, verlangte Matilda streng, »das ihr offen zueinander sagen könnt, alle beide!«
Was denn zum Beispiel? Worüber sollten sie reden? Übers Wetter etwa? Jessie war sich nicht sicher, ob sie ein Thema finden könnte. »Ich
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