DARK MISSION - Fegefeuer
Tastfeld die Nummer ein, an die sie sich erinnerte.
»Oh, bitte, tun Sie jetzt nichts Unüberlegtes!« Die zweite Stimme gehörte der anderen Gestalt, dem anderen Hexer. Sie klang älter. Beruhigend, gelassen. Jessie blickte zur Seite, gerade genug, um aus dem Augenwinkel die Silhouetten der beiden Hexer erkennen zu können.
Mach schon, stell die Verbindung her, verflucht! »Wo ist mein Bruder?«, verlangte sie zu wissen.
Die beiden wechselten einen Blick. »Ich bin nicht …«
»Habe ich nicht gerade erwähnt, dass ich eine Waffe habe?«, unterbrach Jessie den Hexer. Sie kämpfte das Verlangen nieder, sich zu bewegen, nur ein bisschen, nur um die Knie zu entlasten. »Lassen wir doch den ganzen Scheiß, Jungs! Ich weiß, dass ihr mich braucht. Also möchte ich jetzt gleich wissen, wo mein Bruder ist. Wenn ihr zwei nicht sofort mit der Sprache herausrückt, erschieße ich mich gleich hier auf der Stelle, klar? Und ihr habt dafür geradezustehen. Mir kann’s ja dann egal sein.«
Das Com in ihrer Hand blieb stumm. Jessie schob es unter ihre Jacke, in ihren Hosenbund, und betete darum, das eingebaute Mikro wäre tatsächlich so gut, wie es jetzt sein musste.
Es musste unbedingt klappen. So oder so, sie musste es Silas wissenlassen. Dass er seinen verdammten Zirkel haben konnte, solange sie nur im Tausch dafür ihren Bruder bekäme. Das war doch ein faires Geschäft, oder etwa nicht?
Und falls sie sterben sollte bei dem Versuch, ihren Bruder zu retten, umgebracht würde wegen irgend so eines beschissenen Rituals, gut, dann sollte Silas wenigstens wissen, warum.
Der junge Hexer umkreiste Jessie. »Ich sag dir was«, begann er. »Warum bringen wir zwei dich nicht einfach zu Caleb?« Er versuchte, unbekümmert zu klingen. Gleichgültig. Es ging daneben, aber nicht, weil der junge Kerl nicht gut genug gewesen wäre.
Jessie erkannte Lügen. Wut hüllte sie ein wie ein Mantel. Wie ein fester, dicker Mantel. Jessie sammelte all diese Wut um sich.
Wut war etwas sehr Reales. Die Wut war ihr Schutzwall. Eigentlich hätte diese Wut sie auch vor Silas schützen müssen. Aber Jessie hatte vergessen, wütend auf seinen Beruf, seine Berufung zu sein. Sie hatte vergessen, dass er ein Killer war, als er sie gestreichelt und liebkost hatte.
»Also, was sagst du dazu?«, fragte der Junge. Die Hände hielt er seitlich vom Körper weg.
Der andere Mann umkreiste Jessie auf der anderen Seite.
Scheiße, Kacke, Mist, verfluchter!
Jessie saß in der Falle. Ihr Blick zuckte die Straße hinunter und hinüber zu der Straßenecke, hinter der das Schießen jetzt aufgehört hatte. Jessies Gedanken überschlugen sich, und sie fragte: »Und ihr bringt mich wirklich zu Caleb?«
»Sicher«, erklärte der ältere Mann ruhig.
Gedankenschnell warf Jessie die Waffe fort. Beide Hexer fuhren zusammen, sprangen zurück, so überrascht waren sie. Aber sie behielten die Waffe im Auge. Ja! , dachte Jessie. Sie hob die gefesselten Hände über den Kopf. »Ich bin gerade erst den Jägern entkommen. Sie sind sicher hinter mir her. Also lasst uns gehen!«
Ein Herzschlag verstrich. Wortlos wurden Blicke getauscht. Jessie wartete. In ihrem Kopf brüllte sie die beiden an, sich gefälligst zu beeilen, verflucht! Sie zu packen und loszumarschieren. Sie zu Caleb zu bringen.
Sie alle zu Caleb zu bringen.
Der Ältere der beiden war als Erster bei ihr. Er war groß, aber nicht sonderlich breit gebaut, ein Glatzkopf mit einer gezackten Narbe quer über der Wange. Er half Jessie auf die Füße und fingerte, ohne etwas damit erreichen zu können, an den Handschellen herum. »Wir können leider nicht …«
»Ich komme schon zurecht«, unterbrach ihn Jessie scharf. »Wir sollten los!«
Er nickte, tauschte erneut einen Blick mit dem jüngeren, blonden Hexer. In seinem Gesicht wimmelte es vor Sommersprossen. Der Junge machte eine auffordernde Handbewegung.
»Ladies first. Nach Dawson natürlich.«
Jessie gelang ein Grinsen. Zum Scherzen aufgelegt sein. Erleichtert tun. Alles Lüge . »Ah, der ist also eine echte Lady, ja?«, fragte sie mit einem irgendwo hervorgekramten Grinsen.
Der ältere Mann runzelte die Stirn. »Also, dann: Los jetzt!«
Sie marschierten los, Jessie zwischen den beiden Hexern. So ging es im Laufschritt die Straße hinunter, weg von dem Chaos des Kampfschauplatzes, weg von den Jägern.
Weg von Silas.
Jessies Herz hämmerte dumpf und schmerzhaft in ihrer Brust, im Gleichklang mit ihren Schritten, als der Laufschritt nach und nach in
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