DARK MISSION - Fegefeuer
unter anderen Umständen auch tatsächlich getan. Aber nicht dieses Mal. Sie musste wieder einmal ganz von vorn anfangen.
Sie brauchte ein paar Versuche, aber ihre Beine erinnerten sich schließlich doch daran, wie sie sich, ehe sie den Asphalt geküsst hatte, auf ihnen fortbewegen konnte.
Der Regen hämmerte der Stadt mit seinem Tropfenhagel Demut ein; sie kapitulierte. Die Sicht war gleich null. Jessie senkte den Kopfund rannte in Richtung der nächsten Straße los. Hoffentlich hatte sie sich nicht verschätzt, was die Entfernung des schmuddeligen Häuserblocks zu dem Schnellstraßensystem anging, das New Seattle umgab, als wände sich eine Schlange an der Stadt empor.
Eines der anrüchigen Motels, in dem Jessie im Notfall Unterschlupf suchte, lag in guter Deckung etwa zwei Stadtetagen unterhalb der Ebene, in der sich das Perch befand. Diese Kaschemmen waren abgeranzt genug, um eine stundenweise Bezahlung zu verlangen, und schäbig genug, dass Jessie dort nicht um ihr letztes Geld feilschen musste. Auf eine der höheren Stadtebenen zu wechseln kam nicht in Frage. Es war einfach zu weit. Außerdem gab es dort Sicherheitskontrollen und elektronische Sicherheitsanlagen mit Elektroschockfunktionen, die auf »Maximale Abschreckung« eingestellt waren. Jessies Überlebenswahrscheinlichkeit wäre deutlich niedriger.
Weil sie all ihre Habe beim Perch hatte zurücklassen müssen, war sie sowieso im Nachteil. Es würde sie viel Anstrengung kosten, die mit dem Rucksack verloren gegangenen Ressourcen wieder zusammenzutragen. Aber sie könnte es schaffen, und sie würde es, keine Frage. Sie hatte es ja auch früher schon geschafft.
Geduckt rannte sie in eine schmale Gasse. Ihre Lungen brannten, als sie versuchte, Atem zu holen. Mit einer Hand wischte sie sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass wirre, verfilzte Strähnen um ihren Kopf lagen. Irgendwann, irgendwo hatte sie also die Rothaar-Perücke verloren, vielleicht beim Aufschlagen auf dem harten Pflaster. Jessie zerbiss sich einen Fluch auf den Lippen.
Sie fühlte sich, als wäre sie nackt. Es war sehr viel Zeit vergangen, seit sie sich das letzte Mal mit ihrem eigenen, echten Haar auf der Straße hatte blicken lassen. Trotzdem, mehr als zehn Schritt weit konnte man bei diesem Wetter nicht sehen. Es gab niemanden auf der Straße, der sie gut genug sehen könnte, um auf ihrer Spur zu bleiben. Oder doch?
Der Gedanke machte sie nervös.
Sie zog den Kopf tief zwischen die Schultern und stellte den Kragenihrer Jacke hoch. Aber außer zu laufen, als wäre der Teufel hinter ihr her, gab es nichts, was sie hätte tun können.
Und wegzulaufen, darin war sie richtig gut.
Sie hinkte leicht, ignorierte aber das böse Stechen in ihren Knöcheln. Sie hastete die Gasse entlang, sprang über vom Regen durchgeweichte Abfallhaufen und weggeworfene Plastikverpackungen. Vor dem Regen, der Jessie nadelspitz ins Gesicht schlug, kniff sie die Augen zusammen und blinzelte in die Lichter New Seattles, die grell den Regen durchdrangen.
Schicht auf Schicht Menschengemachtes. Zement und Stein, Fundamente aus Metall, gläserne Wolkenkratzer ganz oben, wie aus einer absonderlichen, verqueren Märchenwelt. Jessie konnte die funkelnden Türme der oberen Ebenen in dem wütenden Unwetter nicht erkennen. Aber das war auch gar nicht nötig: Sie wusste auch so, dass die Türme da waren. Sie waren die Grenzposten der Zivilisation, die Wächter der Gläsernen Stadt.
Neue Hoffnung für die ums Überleben kämpfende Menschheit.
Jessie verzog den Mund. Sie hatte nie vorgehabt, in die Geburtsstadt ihrer Mutter zu kommen. Es war allerdings einfacher, sich in einer großen Metropole zu verstecken als woanders. Dieser Grundsatz galt erst recht für eine Metropole, die derart geteilt, zerteilt und in sich gespalten war wie New Seattle. Jahrelang schon war Jessie hier untergetaucht, das Chaos des Molochs ihre Deckung, und immer noch hatte Jessie den weiten Mantel aus Anonymität nicht verschlissen, den die Stadt ihr bot.
Caleb hatte nie gern hier gelebt. Vielleicht war am Ende das der Grund, warum er gegangen war.
Möglicherweise war er noch nicht bereit dafür, von der Hand in den Mund zu leben, von einer rattenverseuchten Wohnung zur nächsten zu ziehen, zu arbeiten, zu stehlen und davonzulaufen. Der Gedanke versetzte Jessie einen Stich ins Herz. Vielleicht hatte sie alles falsch gemacht, alles von genau dem Moment an, an dem sie ihre Mutter tot, ermordet, aufgefunden hatte, in
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