DARK MISSION - Fegefeuer
bog plötzlich und unvorhersehbar ab, und hoffte ihren Verfolger damit abzuschütteln.
Wen versuchte sie da eigentlich zu verarschen? Sie bekam heftiges Seitenstechen. Sie hoffte nur, Silas war noch am Leben und fand sie, ehe jemand sie umbrachte.
Angst trieb sie weiter vorwärts. Sie stolperte über den weiträumig verteilten Schutt einer eingestürzten Mauer. Gerade eben noch schaffte sie es, nicht der Länge nach hinzufallen, sondern sich an der gegenüberliegenden Mauerecke festzuhalten. Panik stieg in ihr hoch, die Jessie tapfer bekämpfte, während sie die Umgebung rechts und links von sich musterte. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe hüpfte unstet über die Seitenstraße. Robustes Moos wuchs in jeder Ritze, in jedem Riss im Boden, jedenfalls dort, wo der Lichtkegel der Taschenlampe auftraf. Der Regen aus dem Röhrenhimmel sammelte sich hier zu einem wahren Wasserfall. Das viele Wasser wusch das Blut und den Schmutz von Jessies Haut und – oh, bitte, Gott! – dämpfte ihren keuchenden Atem.
Mit der freien Hand fuhr sie sich durchs Haar und vertraute ihrem Bauchgefühl. Ihr Bauch meinte, sie solle nach links.
Ihr Verstand verlangte zu wissen, wieso.
Keine Zeit für Erklärungen. Jessie wandte sich nach links. Die Straße, nicht breiter als eine einzige Fahrbahn, eignete sich nicht gerade füreinen Spurt. Bei jedem Schritt trampelte, rutschte und stolperte Jessie über Wurzelwerk und Schutt, und je weiter sie vorankam, desto schlimmer wurde es. Im tanzenden Lichtkegel der Taschenlampe war kaum zu erkennen, was an Hindernissen vor Jessie lag. Sie kämpfte sich durch dichte, klebrige Spinnweben hindurch. Einmal musste sie einen Aufschrei hinunterschlucken, als eine fette braune Spinne gegen ihre Wange prallte und sich an ihrem fragilen Faden wieder davonmachte.
Es schauderte Jessie. Mit geballten Fäusten zog sie den Kopf ein und versuchte nicht an acht dünne Spinnenbeine zu denken, die nach ihr griffen und sich in ihrem Haar verfingen.
Aber sie durfte nicht stehen bleiben, um sich nach ihrem Verfolger umzusehen; sie durfte nicht in Panik geraten.
Der Mann, der hinter ihr her war, schien die Tritte, die sie ihm verpasst hatte, gar nicht gespürt zu haben. Es hatte ihn nicht gekümmert, als sie ihm mit aller Gewalt auf den Fuß getreten war oder ihm ihre steif durchgedrückten Finger in den Hals gerammt hatte.
Aber Jessie selbst, oh ja, sie hatte jede noch so kleine Berührung seiner Finger gespürt! Es war, als hätte der Kerl sie mit Dornen und Nadeln durchbohrt, überall dort, wo er sie angefasst hatte, ganz als wären Feuerameisen über ihren Körper gelaufen. Jede Berührung hatte Schmerz bedeutet. Aber der verfluchte Scheißkerl hatte Jessie nicht nur Schmerz spüren lassen. Vor allem hatte er dafür gesorgt, dass es ihr Angst machte. Das Ganze hatte kaum mehr als eine Sekunde gedauert.
Verdammt viel Macht, die der Kerl ausstrahlte.
Jessie steckte Silas’ Waffe in den Bund ihrer Jeans und fragte sich, wie viel Schuss sie noch übrig hatte – ob es den Schmerzhexer überhaupt interessierte, wenn sie im Laufen wild in seine Richtung schoss. Was passieren würde, wenn der Wichser sie einholte, fragte Jessie sich auch. Ob sie wohl fähig wäre, den Abzug durchzudrücken und ihm dabei direkt in die Augen zu sehen?
Sie überquerte eine Straße, ohne das Gelände vorher zu prüfen. Sie schauderte. Also verdrängte sie das Bild des großen Mannes mit der grauen Haarmatte, der hinter ihr her war. Der sie verfolgte.
Der sie angrinste und mit diesem Grinsen verhöhnte.
Irgendwo in der Nähe hörte man Steine rollen, Schutt, der ins Rutschen geriet. Jemand platschte durch Pfützen, jemand, der in schweren Stiefeln rannte. Zumindest glaubte Jessie, dass es Schritte waren, die sie über das Prasseln des Regens hinweg hörte. Vielleicht war es aber auch einfach nur Wasser, das von einem Dach herunterrauschte, irgendwo weit vor ihr. Doch vielleicht war es ihr Verfolger.
Vielleicht war er gleich hinter ihr.
Sie sprang über einen niedrigen, verrosteten Zaun, der das, was ehemals, vor dem Beben, Straße gewesen war, von dem trennte, was dahinterlag. Jessies Atem rasselte; Luft zu holen, genug Luft zu bekommen, war eine echte Anstrengung. Da passierte es: Mit der Handfläche blieb sie an dem verbogenen Metall des Zaunes hängen. Es riss ihr die Haut auf, als wäre diese nichts als Papier. Jessie japste auf und landete unbeholfen auf der anderen Seite des Zauns; Schmerz jagte durch ihren Körper. Hinter dem
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