DARK MISSION - Fegefeuer
Zaun war es tiefer hinuntergegangen, als Jessie gedacht hatte.
Sie rappelte sich auf, drückte dabei die verletzte Hand gegen die Brust. Etwas unsicher auf den Beinen humpelte sie auf ein schlichtes Steingebäude zu, das vor dem Himmel aus Stahl und Beton zu erkennen war. Wenn das eine Gruselgeschichte wäre, dachte sie schaudernd, dann wäre jetzt ein guter Moment für einen warnenden Blitz in der Dunkelheit. Sie blieb wie angewurzelt stehen.
Der menschengemachte Himmel, der Stahldeckel auf der Unterstadt, kannte keine Blitze. Und das hier war, verflucht noch mal, keine Horrorgeschichte. Es war die Realität.
Entsetzt starrte Jessie auf die riesige altmodische Uhr, die in den Turm der kleinen Kirche eingelassen war.
Das Glas des Zifferblatts war gesprungen und zersplittert. Was davon noch übrig war, bleckte weiß die gezackten Ränder der nie mehr endenden Dunkelheit und dem Regen entgegen. Die schweren Eisenzeiger waren festgerostet. Die Mechanik, die diese einst, vor dem Großen Beben, bewegt hatte, war längst dahin. Jessies Hände bebten sosehr, dass der Strahl der Taschenlampe heftiger denn je auf und ab hüpfte.
»›Hüte dich vor dem Grab, das die Zeit vergessen hat!‹«, hauchte Jessie. Sie spürte kalten Schweiß auf ihrer Haut, kälter noch als der Regen. Sie vergewisserte sich, dass die Waffe noch in ihrem Hosenbund steckte, und wusste nicht recht, ob sie lachen oder schreien sollte.
Hüte dich vor dem Grab, das die Zeit vergessen hat! Ich kann nicht erkennen, was dort passieren wird. Aber wenn du es findest, darfst du dort nicht bleiben. Bleib ja nicht dort, Jessie!
Eine gesprungene Uhr über einer in Trümmern liegenden Kirche. Calebs Prophezeiungen waren also doch zutreffend. Jessie drehte sich um; ihr Herz raste.
»Wo bist du?« Die Männerstimme kroch durch die unheimliche Stille der Straßen von Old Seattle. Gerade eben noch konnte Jessie einen entsetzten Aufschrei unterdrücken. Es war ein echter Kraftakt. Denn Frustration und blanke Angst hatten sie fest im Griff. Jessie machte auf dem Absatz kehrt und rannte in Richtung Kirche.
Die Stufen, die Jessie hinunterhastete, zerfielen fast unter ihren Füßen. Zeit und Verwitterung hatten die Steinkanten abgewetzt, den Stein zerfressen. Die Treppe führte zu einer Art seichtem Graben hinunter, in dem Wasser – grün und braun von Algen und Schlick – stand. Jessie rutschte fast aus, platschte aber, ohne das Tempo zu drosseln, hindurch. Zwei Stufen auf einmal nahm sie, um sich der Ruine zu nähern, dem Gerippe einer Kirche. Jessie zog die Waffe aus dem Bund der Jeans. Der Griff fühlte sich klamm an.
Die Zeit hatte der Kirche alle Schutzwälle genommen, die sie einst geboten hatte. Jessie rannte durch den sich hoch hinaufwölbenden Bogen des Portals, stolperte in eine Eingangshalle, die einst vielleicht so etwas wie ein Versammlungsraum gewesen war. Jetzt war es ein Ort vergessenen, verblassenden Glanzes, ein Echo alter Herrlichkeit. Schatten hingen überall, an zerbröckelten Statuen und herabgestürzten Friesen. Aufgeworfene Reste eines verrottenden roten Teppichs wellten sich wie weggeworfenes Papier im Regen.
Jessie durchquerte das Kirchenschiff, suchte verzweifelt nach einem anderen Weg hinaus als den, den sie gekommen war. Sie suchte nach einer Tür, einem Portal, einem Fenster, das nicht vergittert war, um Buntglasfenster zu schützen, die längst nicht mehr existierten. Jessie suchte einen Ausgang, der nicht versperrt in der Dunkelheit zusammengesackter Wände und eingestürzter Decken verrottete.
Es gab aber nur den einen Eingang.
Hier war Jessie nicht sicher.
Bleib ja nicht dort, Jessie!
Hin- und hergerissen zwischen Schmerzen und Angst vor der Prophezeiung zauderte sie.
»Jessie!«
Sie schrie auf. Die Taschenlampe schepperte zu Boden, und das Scheppern hallte von allen Wänden wider. Jessie wirbelte herum und zielte mit Silas’ Waffe auf die bedrohliche Gestalt, deren Silhouette sich vor dem Eingangsportal abhob. Jessie zitterten die Arme, so schwer war das kalte Metall. Ihr brannten die Augen, aber sie durfte jetzt auf keinen Fall auch nur mit der Wimper zucken, nicht blinzeln. Sie durfte den Mann nicht merken lassen, dass sie die Kräfte verließen.
Hüte dich vor dem Grab, das die Zeit vergessen hat!
Ihrem Grab?
Nein, sein Grab! Sie wappnete sich, stützte die Schusshand mit der verletzten Hand.
»Jessie«, wiederholte der Mann. Er bewegte sich, löste sich aus der Dunkelheit. »Jessie, nimm die Waffe
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