Dark Moon
war schließlich zu einer alten Frau geworden, während Jack noch immer zwanzig war. »Was würdest du tun, wenn ich das Erbe ausschlüge?«
»Dann muss ich weiterziehen.« Jack verschränkte die Arme vor der Brust. »Emilia und ich sind hierher nach Vancouver gekommen, weil wir nicht weiterkonnten. Emilia war schwer krank. Ich wollte sie von meinem Blut trinken lassen, aber sie fürchtete sich vor der Unsterblichkeit. Sie war der Meinung, dass es der natürliche Lauf der Welt ist, wenn ein Mensch nach einem erfüllten Leben stirbt. Vor ihrem Tod wollte sie noch dafür sorgen, dass ich in Sicherheit war. Vor Vampiren konnte sie mich schützen, denn ohne Einladung kann kein Nachtwesen das Haus oder die Wohnung eines Menschen betreten. Aber die Gefährten unserer Verfolger sind ein Problem für mich. Sie sind an dieses Gesetz nicht gebunden.«
»Warum ist das bei Charles Solomon anders?«, wollte ich wissen.
»Das ist eine interessante Frage, auf die ich noch keine Antwort gefunden habe«, sagte Jack. »Manche Fähigkeiten eines Vampirs gehen mit der Zeit auf seinen Gefährten über. Vielleicht gilt das auch für seine Schwächen.«
Jack stand auf. Die ganze Zeit hatte er beinahe reglos im Sessel verharrt, doch nun spürte ich seine Nervosität.
»Wir sind nach Vancouver gekommen, um mit Roseann Kinequon zu sprechen. Ihr unterstehen die Wächter der nördlichen Pazifikküste, die darauf achten, dass der Waffenstillstand zwischen den Menschen und den Nachtwesen gewahrt bleibt. Roseann ist eine sehr mächtige Frau.« Jack stand auf und trat zum Fenster. »Ich will um ihren Schutz bitten. Wärst du bereit, meine Fürsprecherin in dieser Sache zu sein?«
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Grandma hatte mich vor Wesen wie ihm gewarnt, und nun stand Jack Valentine vor mir und bat mich um Hilfe! Wenn ich Emilias Erbe ausschlug, war sein Todesurteil besiegelt. Das Haus in der Water Lane war sein Refugium, das nur beschützt werden konnte, wenn es einen neuen Hausherrn hatte. Unwillkürlich musste ich lachen. Noch vor wenigen Wochen war ich ein normales Mädchen mit einem normalen Leben gewesen, und nun stand ein Mann vor mir, der mich durch seine bloße Existenz in eine andere Welt versetzt hatte. Ein Mann, dessen Schönheit und Willenskraft mich verwirrten.
»Ich werde mit Grandma reden.« Meine Stimme war rau und ich musste mich räuspern. »Und ich werde das Erbe annehmen.«
Jacks Haltung entspannte sich. Er atmete tief aus und wandte sich zu mir um. »Danke«, flüsterte er. »Du weißt nicht, was mir das bedeutet.«
Ich hielt das Testament hoch. »Was machen wir damit? Ich kann es meinen Eltern ja wohl schlecht beim Frühstück unter die Nase halten. Sie würden sofort fragen, wo ich es herhabe.«
»Muss deine Mutter noch einmal in Emilias Haus?«
»Soviel ich weiß, wollte sie morgen dort Blumen gießen«, antwortete ich.
»Sehr gut. Dann werde ich dafür sorgen, dass sie das Testament findet.«
Er nahm mir das Kuvert aus der Hand und unsere Finger berührten einander wie durch Zufall. Doch diesmal war es Jack, der zurücktaumelte und sich am Bettpfosten festhalten musste. Ich hätte schwören können, dass seine Augen einen Augenblick lang bernsteinfarben glühten. Doch er zögerte nicht lange und sprang mit einem raschen Satz zum Fenster hinaus.
Kapitel
D en ganzen Vormittag lang schob ich den Besuch bei Grandma vor mir her, obwohl ich wusste, dass sie auf mich wartete. Der Voyager parkte noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war der Lieferwagen eines Elektroinstallateurs aus East Vancouver, der hier in der Gegend, wo immer etwas gebaut oder instand gesetzt wurde, überhaupt nicht auffiel. Aber ich musste mich trotzdem versichern, dass der Fahrer zu Grandmas Truppe gehörte. Deshalb ging ich zu ihm hinüber und sprach ihn an. Der Mann, der sich mir als Hank vorstellte, nahm die Thermoskanne mit Kaffee und das Sandwichpaket, die ich ihm mitgebracht hatte, begeistert entgegen.
»Danke, Miss«, sagte er, als er die Tür öffnete und das späte Frühstück in Empfang nahm. »Das kommt gerade richtig.« Hank hatte die massige Statur eines Footballers, ohne dabei schwerfällig zu sein. Er trug ein kurzärmeliges, kariertes Hemd, das ein kriegerisch anmutendes Tattoo freiließ. Es bestand aus einer halben Weltkugel und einem halben Ahornblatt, die durch ein aufrecht stehendes Schwert verbunden waren. Darunter stand: »Facta non verba«.
Ich kratzte meine kümmerlichen Lateinkenntnisse
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