Dark Moon
Mein Herz setzte einen Schlag aus, denn ich wusste genau: Wenn ich diesen Brief öffnete, würde nichts mehr so sein, wie es war.
Jack bemerkte mein Zögern und stand auf. »Vielleicht sollte ich dich damit alleine lassen.«
»Nein, bleib«, sagte ich. Wie vor einem Sprung ins kalte Wasser holte ich tief Luft und riss das Kuvert auf.
Ich erkannte die Handschrift sofort. Das Testament war auf den Tag vor ihrem Tod datiert. Es bestand aus einem einzigen, schlichten Satz: »Zu meiner alleinigen Erbin setze ich Lydia Frances Garner ein, wohnhaft 476 0 Woodgreen Drive, B C V7 S 2Z9 West Vancouver. Emilia Frazetta.«
Ich ließ das Blatt sinken und blickte Jack verzweifelt an. »Was heißt das?«, fragte ich ihn.
»Das heißt, dass sie dir all ihren Besitz vermacht hat, das Haus, die Bilder, das Geld. Und ihr Leben.«
»Warum mir?«, fragte ich verständnislos. »Warum nicht dir?«
Jack lächelte traurig. »Weil es mich genau genommen gar nicht gibt. Und weil sie keine Familie hat.«
»Woher willst du das wissen?«
Er setzte sich wieder neben mich und seine Nähe raubte mir beinahe den Atem. »Ich bin der Grund dafür, dass Emilia Frazetta fünfzig Jahre lang auf der Flucht war.«
Ich faltete das Testament zusammen und schob es wieder zurück ins Kuvert. »Hier«, sagte ich. »Ich werde das Erbe ablehnen.«
Jack musterte mich lange und eindringlich, doch ich hielt seinem Blick stand, bis er kaum merklich nickte. »Gut«, sagte er. »Doch ehe wir dieses Testament vernichten, möchte ich dir eine Geschichte erzählen. Vielleicht änderst du danach ja deine Meinung. Aber egal welche Entscheidung du am Ende auch triffst, ich werde sie respektieren.«
»Gut«, sagte ich. »Doch ich möchte dich vorher um einen Gefallen bitten.«
»Sicher. Um was für einen?«
»Setz dich bitte wieder dort hinten in den Sessel. Du machst mich schrecklich nervös.«
Er lächelte und nahm gehorsam im Sessel Platz. »Ich habe bemerkt, dass du dir das Buch über die Squamish aus Emilias Bibliothek geliehen hast.«
Ich errötete und mein Gesicht wurde ganz heiß. »Woher weißt du, dass ich das war?«
Jack tippte sich an die Nase. »Du hinterlässt Spure n – genau wie ich. Ich nehme an, du hast das letzte Kapitel besonders aufmerksam gelesen.«
Ich öffnete die Nachttischschublade und holte den Band hervor. »Stimmt. Meine Großmutter behauptet, dass die Geschichte wahr sei.«
»Roseann Kinequon«, sagte Jack, als wäre ihm der Name gerade erst wieder eingefallen.
»Du kennst Grandma?«, fragte ich überrascht.
»Nicht persönlich.« Es klang fast so, als würde er es bedauern. »Aber sie genießt bei uns einen gewissen Ruf.« Er machte eine schwer zu deutende Geste. »Wie auch immer: Ob die Nachtwesen aus göttlichem Zorn entstanden sind, das kann ich nicht beurteilen, dafür bin ich zu jung. Aber wir existiere n – nicht nur in Märchen.«
»Wie viele seid ihr?«, wollte ich wissen.
Jack seufzte. »Auch das weiß ich nicht, und zwar deshalb, weil ich der Gemeinschaft nicht mehr angehöre. Und der Grund dafür ist Emilia. Jahrhundertelang haben Vampire und Menschen einander gejag t – ein blutiger Krieg, der zahllose Opfer auf beiden Seiten gefordert hat. Und er war sinnlos. Vampire brauchen kein Menschenblut, um zu überleben. Deshalb konnte ein Friedensabkommen zwischen Nacht- und Tagwesen geschlossen werden. Nur wenige Vampire halten sich nicht daran und überfallen Menschen, um deren Blut zu trinken.«
»Seht ihr alle so… gut aus?« Ich schämte mich beinahe, diese Frage zu stellen, doch Jack lachte nicht.
»Oh ja. Unsere Schönheit ist ein Ergebnis der Verwandlung«, sagte er. »Sie vereinfacht die Jagd.«
»Wie wird man zum Vampir?«, wollte ich wissen. »Muss man an einem Biss sterben, um als Nachtwesen wiedergeboren zu werden?«
»Nein. Wenn ein Vampir zu viel von deinem Blut trinkt, bist du einfach tot. Für eine Verwandlung muss man den umgekehrten Weg nehmen und das Blut eines Vampirs trinken.«
Ich schaute Jack verständnislos an. »Das würde ich niemals freiwillig tun.«
»Natürlich nicht. Ich würde das auch nicht zulassen. Aber ich selbst hatte damals keine Wahl. Vampire können sehr überzeugend sein.«
»Was ist geschehen?«, fragte ich mit leiser Stimme.
»Ich wurde 1941 in einem kleinen Nest in der Nähe von Des Moines, Iowa, geboren. Warst du schon mal dort?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wenn es eine Hölle gibt, dann liegt sie in Scranton, Greene County. Allein der Name klingt schon wie
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