Dark Moon
allein sein. Erst als ich bei dem Grab seiner seligen Mutter schwor, vorsichtig zu sein, ließ Hank mich ziehen.
Die Straßen von Vancouver waren um diese Zeit, eine Stunde vor Sonnenaufgang, so gut wie ausgestorben. Die Pendler würden sich erst in zwei Stunden auf den Weg zur Arbeit machen. Um mich abzulenken, schaltete ich das Radio ein, aber es half nichts, denn meine Gedanken kehrten immer wieder zu Mark zurück. Auch jetzt noch gellten seine Schreie in meinen Ohren. Ich sah seine Augen vor mi r – ein Blick voller Todesangst.
Mir wurde schlecht. Ich fuhr rechts ran, riss die Tür auf und übergab mich. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mich alleine auf den Heimweg zu machen.
Zu Hause stellte ich den Wagen in der Garage neben Dads Volvo. Moms Platz war leer, sie hatte heute Spätschicht im Krankenhaus und würde vor morgen Früh nicht nach Hause kommen. So leise wie möglich schloss ich die Haustür auf und ging hinunter in den Keller, wo wir neben der Sauna ein zweites Bad hatten. Ich wollte Dad nicht wecken. Und ich wollte nicht, dass er mich so sah.
Marks Blut hatte große, dunkle Flecken auf meinem T-Shirt hinterlassen. Ich überlegte kurz, ob ich es in kaltem Wasser einweichen sollte, stopfte es dann aber doch zusammen mit der Hose, die in keinem besseren Zustand war, in eine Plastiktüte, um beides wegzuwerfen.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, starrte mich eine Fremde an. Mein Haar war verfilzt und ich hatte Dreck unter den Fingernägeln. Ärgerlich zischte ich mein Spiegelbild an, dann stieg ich unter die Dusche. Ich blieb so lange unter dem heißen Wasserstrahl stehen, bis sich meine Haut rötete und wehtat. Dann trocknete ich mich ab, wickelte mich in ein Handtuch und ging auf Zehenspitzen hinauf in mein Zimmer.
Ich wollte nur noch ins Bett, obwohl ich ahnte, dass ich keinen Schlaf finden würde.
»Was ist passiert?«, flüsterte eine Stimme. Erschrocken wandte ich mich um. »Warum kommst du jetzt erst nach Hause?«
Ein Schatten saß in meinem Sessel. Rosenduft drang in meine Nase.
»Was tust du hier?«, sagte ich wütend.
Er stand auf und schaltete das Licht an. »Ich hab mir Sorgen gemacht.«
Ich drehte mich um, ließ das Handtuch fallen und zog meinen Pyjama an. Ich war so aufgebracht, dass es mir völlig egal war, dass Jack mich nackt sah. »Mark und ich haben eine Verbindungszeremonie beobachtet.«
»Das kann nicht sein! So etwas hat es seit über hundert Jahren nicht mehr gegeben.«
»Dann erzähl das mal Mark. Wir wurden nämlich erwischt.«
Jack wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. »Ist er gebissen worden?«
»Nein, viel besser«, fauchte ich zurück. »Eine Vampirin hat ihn gezwungen, ihr Blut zu trinken. Jetzt liegt er zu Hause bei Grandma und die Wächter versuchen sein Blut zu waschen.«
Jack stöhnte auf. »War die Königin anwesend?«
»Du fragst ja gar nicht, wie es ihm geht?«, sagte ich kühl. »Hat das vielleicht etwas mit dem zu tun, was du letzte Nacht mit mir angestellt hast?«
»Wir haben uns nur geküsst! Du bist zusammengebrochen und ich habe dich nach Hause gebracht«, erwiderte Jack entrüstet.
»Du hast mich also nicht zu deiner Gefährtin gemacht?«
»Nein, wir haben nicht miteinander geschlafen«, sagte er wütend. »Du warst ohnmächtig! Für wen hältst du mich eigentlich?«
»Für einen Vampir!«
»Lydia! Bitte beruhige dich. Ich würde nie etwas gegen deinen Willen tun.«
»Und warum kann ich mich an diese Nacht nicht erinnern? Warum bin ich zusammengebrochen?«
»Das weiß ich auch nicht. Ich hatte Angst um dich, sonst hätte ich heute nicht die ganze Nacht hier auf dich gewartet. Ich wollte wissen, wie es dir geht.«
»Sie sah aus wie ein Dämon«, schluchzte ich. »Sie schwebte durch die Luft und griff Mark an.«
»Was soll das heißen: ›Sie schwebte durch die Luft‹?«, fragte Jack verwirrt. »Vampire können nicht fliegen! Das ist absurd!«
»Ich war dabei. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Diese Vampirin flog durch die Luft und fiel über Mark her«, wiederholte ich beschwörend.
Jack stand auf und trat zu mir. In seinen Augen sah ich nackte Angst.
»Glaubst du mir?«, fragte ich.
»Ja. Ich glaube dir«, sagte er. »Wenn wirklich geschehen ist, was du gesehen hast, dann wird das furchtbare Folgen haben.«
»Welche?«, fragte ich.
»Alles würde sich ändern«, sagte Jack. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich muss dringend mit der Königin sprechen. Meine Wiederaufnahmezeremonie soll
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