Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
Patty.«
Diane, die Macherin. Wenn etwas erledigt werden musste, wurde es durchgezogen, davon konnte sie kein Wetter, keine Faulheit, kein schmerzendes Ohr, kein geschmolzenes Eis und auch keine noch so verängstigte Schwester abbringen.
Patty drehte an ihren goldenen Ohrsteckern. Der linke war ein bisschen verrutscht – ihre Schuld, weil sie sich in letzter Sekunde weggedreht hatte. Aber sie waren da, ein doppelter Beweis ihrer einstigen Teenagerenergie, und sie hatte die Aktion zusammen mit ihrer Schwester ausgeheckt, genau wie sie sich auch mit ihr zusammen das erste Mal die Lippen geschminkt und die elastischen Clips an ihren ersten Binden befestigt hatte, die so groß waren wie Windeln. Das war ungefähr 1965 gewesen. Manche Dinge waren einfach nicht dafür gedacht, dass man sie alleine machte.
Sie goss Scheuermittel ins Becken und fing an zu schrubben. Sofort wurde das Wasser tintig grün. Bald würde Diane kommen. Mitte der Woche schaute sie immer vorbei, wenn sie »sowieso grade im Auto saß«. Auf diese Weise machte sie sich und anderen vor, dass die dreißig Meilen Fahrt Teil ihrer Alltagserledigungen waren. Über die neueste Ben-Geschichte würde sie sich bestimmt amüsieren. Immer wenn Patty sich wegen der Schule, den Lehrern, der Farm, wegen Ben, ihrer Ehe, den Kids und wieder der Farm (seit 1980 war es immer, immer, immer die Farm) Sorgen machte, dann brauchte sie Diane, wie andere Menschen einen Drink. Dann saß Diane auf einem Gartenstuhl in der Garage, rauchte eine Zigarette nach der anderen und erklärte Patty, dass sie eine Idiotin sei und gefälligst mit dem Gejammer aufhören sollte. Sorgen fänden einen leicht genug, auch wenn man sie nicht einlud. Bei Diane waren Sorgen fast wie Lebewesen – blutegelartige Kreaturen mit Schnappschlössern als Finger –, und sie mussten sofort vernichtet werden, wenn sie auftauchten. Diane machte sich keine Sorgen, Sorgen waren etwas für weniger beherzte Frauen.
Aber Patty konnte einfach nicht damit aufhören. Im letzten Jahr hatte Ben sich immer mehr von ihr distanziert, hatte sich in einen fremden, verkrampften jungen Mann verwandelt, der sich in seinem Zimmer verschanzte und eine Musik hörte, die die Wände zum Wackeln brachte, mit Texten wie Rülpser und wilde Schreie. Erschreckende Worte drangen unter seiner Tür hervor. Zuerst hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, darauf zu achten, aber dann war sie eines Tages früher als geplant aus der Stadt zurückgekommen. Ben hatte gedacht, er wäre allein zu Hause, und sie hatte vor seiner Tür gestanden und das barbarische Brüllen gehört:
You’ve lost control
Of my heart and soul,
Satan holds my future,
watch it unfold.
Die Platte sprang, und wieder erscholl der raue Gesang: Du hast keine Kontrolle mehr über mein Herz und meine Seele, meine Zukunft gehört Satan, schau, wie sie sich entfaltet.
Und wieder. Und noch einmal. Plötzlich begriff Patty, dass Ben neben dem Plattenspieler stand, immer wieder die Nadel anhob und die gleiche Stelle abspielte. Wie ein Gebet.
Sie brauchte Diane. Jetzt sofort. Diane, die sich auf der Couch fläzte wie ein freundlicher Brummbär in einem ihrer drei alten Flanellhemden. Seit neuestem kaute sie Nikotin-Kaugummis; sie würde die Geschichte erzählen, wie Patty einmal in einem Minikleid heimgekommen war und ihren Eltern buchstäblich die Luft weggeblieben war und sie ihre Tochter angeschaut hatten, als wäre sie ein hoffnungsloser Fall. »Und du warst kein hoffnungsloser Fall, oder? Du warst einfach ein Teenager. Und das ist Ben auch.« Und dann würde Diane mit den Fingern schnippen, als wäre alles ganz einfach.
Die Mädchen drückten sich vor der Badezimmertür herum, sie würden Spalier stehen, wenn ihre Mom herauskam. Aus ihrem Schrubben und Grummeln hatten sie geschlossen, dass wieder mal etwas schiefgelaufen war, und nun überlegten sie, ob es eher ein Fall für Tränen oder für Anschuldigungen war. Wenn Patty weinte, stimmten mindestens zwei ihrer Mädels mit ein, und wenn jemand Ärger bekam, hallte das ganze Haus wider von Vorwürfen. Die Day-Frauen waren die leibhaftige Verkörperung der Sippenmentalität.
Patty wusch sich die Hände, die wie immer rissig, rot und rau waren, und schaute in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass ihre Augen nicht nass waren. Sie war zweiunddreißig, sah aber zehn Jahre älter aus. Ihre Stirn war faltig wie der Papierfächer eines Kindes, Krähenfüße umrahmten ihre Augen. Durch ihre roten Haare zogen sich
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