Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
ich auch die Verantwortung.«
»Haben Sie irgendwelche Erklärungen abgegeben? Der Polizei gesagt, dass Sie Ben für unschuldig halten?«
»Hmm, nein. Wie es aussieht, haben die meisten Leute schon vor langer Zeit erkannt, dass Ben nicht der Mörder ist«, sagte Barb, und ihre Stimme wurde wieder schrill. »Ich nehme an, dass Sie Ihre Aussage offiziell widerrufen haben? Bestimmt ist das eine große Hilfe.«
Sie wartete, dass ich noch etwas sagen und genauer erklären würde, warum ich zu ihr gekommen war. Dass ich sagen würde, ja klar, Ben ist unschuldig, und ich bringe alles wieder ins Lot. Sie saß da und musterte mich aufmerksam, aß dabei ihren Lunch und kaute jeden Bissen übertrieben gewissenhaft. Ich starrte auf ihre Bücherregale, die ausschließlich Ratgeber enthielten.
Öffne dich dem Sonnenschein!; Los geht’s, Mädchen; Hör auf, dich zu bestrafen; Steh auf – du bist groß; Sei deine eigene beste Freundin; Lass die Vergangenheit ruhen und blicke in die Zukunft!
Ein Titel dieser Art nach dem anderen, allesamt gnadenlos optimistisch und unbelehrbar heiter. Je mehr ich davon las, desto elender fühlte ich mich. Naturheilmittel, positives Denken, sich selbst vergeben, mit den eigenen Fehlern leben. Es gab sogar ein Buch, wie man die eigene Trödelei besiegt. Ich traute diesen ganzen Selbsthelfern nicht. Vor Jahren war ich einmal mit dem Freund eines Freundes, einem netten, attraktiven, normalen Typen im Rollkragenpullover, der in meiner Nähe wohnte, in einer Bar und ging danach zu ihm nach Hause. Wir hatten Sex, und als er eingeschlafen war, schaute ich mich ein wenig in seinem Zimmer um und fand auf seinem Schreibtisch eine ganze Batterie von Klebezetteln mit Sprüchen wie:
Nimm den Kleinkram nicht so wichtig, es ist alles nur Kleinkram.
Wenn wir aufhören würden zu versuchen, glücklich zu sein, hätten wir ziemlich viel Spaß.
Genieße das Leben – keiner kommt hier lebend raus.
Sorge dich nicht – sei glücklich.
Mir machte diese ganze dringliche Zuversicht viel mehr Angst als ein Haufen Totenschädel, an denen noch die Haare klebten. In Panik rannte ich aus der Wohnung, die Unterwäsche in den Ärmel gestopft.
Ich blieb nicht mehr lange bei Barb, sondern verließ sie mit dem Versprechen, mich demnächst wieder telefonisch bei ihr zu melden, und einem blauen Briefbeschwerer in Herzform, den ich von ihrem Beistelltischchen geklaut hatte.
Patty Day
2 . Januar 1985
9 Uhr 42
D as Waschbecken, in dem Ben sich die Haare gefärbt hatte, war mit einem klebrigen lila Film verschmiert. Vermutlich hatte er sich irgendwann in der Nacht im Bad eingeschlossen, sich auf den Klodeckel gesetzt und die Gebrauchsanweisung auf der Packung durchgelesen, die Patty gerade im Müll gefunden hatte. Auf der Schachtel war eine Frau mit grellrosa Lippen und einem pechschwarzen Pagenkopf abgebildet. Sie fragte sich, ob er das Zeug vielleicht gestohlen hatte. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie Ben, der schüchterne Ben, mit einer Packung Haarfarbe zum Bezahlen an die Kasse ging. Also hatte er sie vermutlich mitgehen lassen, und dann hatte ihr Sohn mitten in der Nacht ganz allein abgemessen und gemischt und die Haare eingeschäumt und schließlich mit einem Schlammberg auf dem Kopf dagesessen und gewartet.
Die Vorstellung machte sie unendlich traurig. Dass ihr Junge sich in diesem Frauenhaushalt mitten in der Nacht ganz alleine die Haare gefärbt hatte. Natürlich war es albern zu denken, er hätte sie doch um Hilfe bitten können, aber so etwas ohne einen Komplizen zu machen, kam ihr so entsetzlich einsam vor. Vor gut zwanzig Jahren hatte Pattys große Schwester Diane ihr in genau diesem Badezimmer Ohrlöcher gestochen. Patty hatte mit einem billigen Feuerzeug eine Sicherheitsnadel erhitzt, Diane hatte eine Kartoffel durchgeschnitten und das kalte, feuchte Ding von hinten an Pattys Ohr gedrückt. Dann hatten sie das Ohrläppchen mit einem Eiswürfel vereist, und Diane –
halt still, halt stilllll!
– hatte in Pattys gummiweiches Fleisch gestochen. Wozu sie die Kartoffel brauchten? Um besser zielen zu können vielleicht. Nach dem ersten Ohr hatte Patty einen Rückzieher gemacht, hatte sich auf den Badewannenrand fallen lassen, die Sicherheitsnadel noch im Ohrläppchen. Aber Diane hatte sich, konzentriert und unerschütterlich in ihrem riesigen wollenen Nachthemd, mit einer zweiten heißen Nadel auf ihre Schwester gestürzt.
»Ist gleich vorbei, du kannst nicht bloß eines machen,
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