Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
mit ihm redest. Obwohl ich persönlich nicht glaube, dass Runner der Mörder ist«, sagte Lyle. »Allerdings erscheint es schon irgendwie am einleuchtendsten – Schulden, bekannte Neigung zu Gewalttätigkeiten.«
»Und er ist verrückt.«
»Na gut«, stimmte Lyle zu und grinste. »Aber er kommt mir nicht klug genug vor, um so was durchzuziehen. Nichts für ungut.«
»Schon in Ordnung. Also, wie lautet dann deine Theorie?«
»Ich bin noch nicht ganz so weit, dass ich sie jemandem erzählen möchte.« Er klopfte auf den Aktenstapel neben sich. »Ich lasse dich erst mal die einschlägigen Fakten des Falls durchlesen.«
»Ach Herrje«, sagte ich. Als das letzte Wort aus meinem Mund war, merkte ich, dass ich einen Ausdruck meiner Mutter benutzt hatte.
Ach Herrje, machen wir uns aus dem Staub! Wo sind meine Schlüssel, zum Kuckuck nochmal
?
»Wenn Ben wirklich unschuldig ist, warum versucht er dann nicht rauszukommen?«, fragte ich. Meine Stimme klang hoch, besonders dringlich beim letzten Teil des Satzes, ein kindliches Piepsen: Aber warum krieg
ich
denn keinen Nachtisch? Mir wurde klar, dass ich insgeheim hoffte, Ben wäre unschuldig und ich könnte ihn zurückkriegen – den Ben, den ich kannte, bevor ich Angst vor ihm bekam. Ich hatte mir eine kurze, gefährliche Vision von ihm gestattet, wie er das Gefängnis verließ und zu meinem Haus marschierte, die Hände tief in den Taschen – auch eine Erinnerung, die zurückkehrte, wenn ich die Gedanken zuließ: Ben hatte die Hände gern in den Taschen vergraben, war ständig verlegen. Dann saß er an meinem Esstisch – den ich bekanntlich nicht hatte –, glücklich, bereit zu verzeihen, nichts Schlimmes passiert. Falls er unschuldig war.
Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär
, hörte ich die Stimme meiner Tante Diane in meinem Kopf dröhnen. Diese Worte waren der Fluch meiner Kindheit, eine ständige Erinnerung daran, dass nichts jemals wirklich gut ausging, nicht nur bei mir, sondern bei allen. Deshalb war der Spruch ja erfunden worden. Damit wir immer daran dachten, dass wir nie das bekommen würden, was wir brauchten.
Denn –
erinnere dich, Baby Day, erinnere dich
– Ben war in jener Nacht zu Hause gewesen. Als ich aus dem Bett kletterte und ins Zimmer meiner Mom schlich, hatte ich das Licht unter seiner Tür gesehen. Und das Murmeln dahinter gehört. Er war da.
»Vielleicht könntest du Ben als Ersten fragen.«
Ben im Gefängnis. Über zwanzig Jahre hatte ich mich geweigert, auch nur an das Gefängnis zu denken. Jetzt stellte ich mir meinen Bruder dort vor, hinter dem Stacheldraht, hinter den Betonmauern, einen grauen Korridor hinunter, in einer Zelle. Hatte er Fotos von seiner Familie bei sich? War so etwas überhaupt gestattet? Mir wurde klar, dass ich keine Ahnung von Bens Leben hatte. Ich wusste ja nicht mal, wie so eine Zelle aussah, ich kannte Gefängnisse nur aus dem Kino.
»Nein, nicht Ben. Noch nicht.«
»Liegt es am Geld? Wir würden auch dafür bezahlen.«
»Es liegt an vielen Dingen«, grummelte ich.
»Okaaaaaay. Möchtest du lieber zuerst Runner suchen? Oder … was?«
Eine Weile saßen wir schweigend da. Wir wussten beide nicht, was wir mit unseren Händen anfangen sollten, und konnten uns auch nicht in die Augen sehen. Als Kind wurde ich ständig zum Spielen zu anderen Kindern geschickt – die Psychologen beharrten darauf, dass ich Kontakt zu Gleichaltrigen aufnehmen sollte. So war auch mein Treffen mit Lyle: wie diese ersten schrecklich unbestimmten zehn Minuten, wenn die Erwachsenen gegangen sind und beide Kinder nicht wissen, was das andere möchte. Man steht rum, in der Nähe des Fernsehers, den man nicht anmachen darf, und befingert die Antenne.
Ich stocherte in der kostenlosen Schüssel ungeschälter Erdnüsse herum, die sich brüchig und luftig anfühlten wie Käferpanzer, und ließ ein paar Nüsse in mein Bier fallen, um ein bisschen Salz zu kriegen. Sanft schaukelten sie an der Oberfläche. Ich stupste sie an. Auf einmal kam mir mein ganzer Plan entsetzlich kindisch vor. Wollte ich wirklich mit Leuten sprechen, die womöglich meine Familie getötet hatten? Wie konnte es etwas anderes als ein frommer Wunsch sein, dass Ben unschuldig war? Und wenn er tatsächlich unschuldig sein sollte, war ich dann nicht das gemeinste Arschloch der Welt? Auf einmal hatte ich dieses überwältigende Gefühl, das ich immer bekam, wenn ich kurz davor war, einen Plan zu verwerfen, ein heftiger Windstoß, der mir
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