Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
einem Gerichtssaal, wo er einen Haufen Leute kennt, in den Zeugenstand rufen und eine Tränenflut von ihm erwarten. Ich dachte, ich würde auf jeden Fall freigesprochen, und in der Schule würde man mich bewundern, weil ich so ein harter Kerl bin. Ich meine, ich hatte Tagträume von dem ganzen Scheiß. Ich hab doch nie damit gerechnet, dass ich Gefahr laufe … so zu enden.« Jetzt weinte er wieder und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Na ja, jedenfalls habe ich inzwischen gelernt, vor anderen Menschen zu heulen.«
»Wir müssen das in Ordnung bringen«, sagte ich schließlich.
»Das lässt sich nicht wieder in Ordnung bringen, Libby, jedenfalls nicht, bevor die rausfinden, wer es wirklich getan hat.«
»Du brauchst ein paar neue Anwälte, die sich um den Fall kümmern«, argumentierte ich. »Das ganze Zeug, das sie jetzt mit der DNA veranstalten können …« DNA war für mich irgendeine Zaubersubstanz, leuchtender Glibber, der Leute aus dem Gefängnis holen konnte.
Ben lachte mit geschlossenem Mund, wie er es schon früher manchmal getan hatte. Man konnte sich nicht daran freuen.
»Du klingst wie Runner«, sagte er. »Ungefähr alle zwei Jahre kriege ich einen Brief von ihm:
DNA ! Wir brauchen
DNA
. Als hätte ich irgendwo einen Vorrat davon gehortet und wollte nichts davon hergeben.
D-N-A!
«, wiederholte er und imitierte dazu Runners Kopfnicken und seine verdrehten Augen.
»Weißt du, wo Runner jetzt ist?«
»Der letzte Brief kam von einem Bert Nolan’s Group Home for Men, irgendwo in Oklahoma. Er hat mich gebeten, ihm fünfhundert Dollar zu schicken, damit er seine Recherchen für mich fortsetzen kann. Wer auch immer Bert Nolan sein mag, er wird es noch bereuen, dass er Runner in sein Männerheim gelassen hat.« Er kratzte sich am Arm, und der Ärmel rutschte gerade weit genug hinauf, dass ich ein Tattoo mit einem Frauennamen erkennen konnte. Er hörte mit -
olly
oder -
ally
auf. Ich sorgte dafür, dass er merkte, wie ich es anschaute.
»Ach das? Alte Flamme. Wir haben als Brieffreunde begonnen. Ich dachte, ich würde sie lieben und wir würden vielleicht heiraten, aber wie sich herausstellte, wollte sie dann doch nicht mit einem Typen zusammen sein, der lebenslang im Gefängnis sitzt. Wäre schön gewesen, wenn sie mir das gesagt hätte, bevor ich mir das Tattoo hab stechen lassen.«
»Hat bestimmt wehgetan.«
»Jedenfalls nicht gekitzelt.«
»Ich meine die Trennung.«
»Oh. Ja, die war auch beschissen.«
Die Wache gab uns das Drei-Minuten-Signal, und Ben verdrehte die Augen. »Es ist immer so schwer zu entscheiden, was man in den letzten drei Minuten sagen will. Wenn man noch zwei Minuten hat, macht man einfach nur noch Pläne für den nächsten Besuch. Bei fünf kann man ein Gespräch einigermaßen anständig zu Ende führen. Aber in drei?« Er schob die Lippen vor und schnaubte leise. »Ich hoffe echt, dass du wiederkommst, Libby. Ich hab ganz vergessen, wie viel Heimweh ich hatte. Du siehst ihr so ähnlich.«
Patty Day
2 . Januar 1985
11 Uhr 31
A ls Len endlich gegangen war – nicht ohne mit seinem freudlosen Lächeln noch mehr unappetitliche Dinge anzudeuten, Hilfsangebote, auf die Patty ganz und gar keinen Wert legte –, hatte sie sich ins Badezimmer zurückgezogen. Als die Mädchen die Haustür zuschlagen hörten, waren sie sofort aus ihrem Zimmer geströmt und hatten nach einer schnellen geflüsterten Beratung vor der Badezimmertür beschlossen, ihre Mutter in Frieden zu lassen und vor den Fernseher zurückzukehren.
Patty hatte die Arme um sich geschlungen, war von kaltem Schweiß bedeckt. Die Farm ihrer Eltern war verloren. Sie spürte das schuldbewusste Rumoren im Magen, das immer dazu geführt hatte, dass sie sich wie ein braves Mädchen benahm, diese ständige Angst, ihre Familie zu enttäuschen,
bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass sie es nicht erfahren.
Sie hatten ihr die Farm anvertraut, und sie hatte sich als unfähig erwiesen. Sie stellte sich ihre Eltern im Himmel vor, wie sie auf einer Wolke saßen, ihr Dad hatte den Arm um ihre Mom gelegt, und sie schauten auf ihre Tochter herab, schüttelten den Kopf und sagten:
Was in aller Welt hat dich dazu gebracht, so etwas zu tun?
Der Lieblingsvorwurf ihrer Mutter, wenn sie sauer war.
Sie würden in eine andere Stadt ziehen müssen. In Kinnakee gab es keine Wohnungen, und sie würden sich in ein Apartment quetschen müssen, während sie sich irgendeinen Bürojob suchte. Hoffentlich würde sie einen finden. Sie
Weitere Kostenlose Bücher