Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
war von Anfang an klar, dass es nicht funktionieren würde, und danach hatte sie nie wieder den Mut gehabt, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht klappte es ja, wenn Libby mit der Highschool fertig war, in elf Jahren. Dann war sie dreiundvierzig, also genau in dem Alter, in dem Frauen angeblich am meisten Spaß am Sex hatten. Oder so. Vielleicht kamen sie da auch schon in die Wechseljahre.
»Fahren wir zur Schule?«, fragte Diane, und Patty schüttelte die Dreisekunden-Trance ab, um sich an ihr grässliches Vorhaben zu erinnern, an ihre Mission: Sie mussten Ben finden – und dann? Ihn verstecken, bis Gras über die Sache gewachsen war? Ihn zum Haus des Mädchens fahren und die Geschichte irgendwie in Ordnung bringen? In Familienfilmen erwischte die Mutter ihren Sohn immer beim Stehlen, lotste ihn zurück in den Drugstore und zwang ihn, die Süßigkeiten mit zitternden Händen zurückzubringen und inständig um Verzeihung zu bitten. Patty wusste, dass Ben manchmal etwas klaute. Eine Kerze, Batterien, eine Plastikpackung Spielzeugsoldaten. Sie hatte nie etwas gesagt, was schrecklich war. Ein Teil von ihr wollte sich einfach nicht damit befassen – den ganzen Weg in die Stadt fahren, mit irgendeinem Kerl reden, der den Mindestlohn bezahlt kriegte und dem ihr Anliegen sowieso vollkommen egal war. Und der andere (noch schlimmere) Teil in ihr dachte: Warum soll er das eigentlich nicht tun? Der Junge hat so wenig, warum kann ich es dann nicht einfach stehenlassen, wenn er behauptet, dass er das Zeug von einem Freund geschenkt bekommen hat? Soll er die geklauten Sachen doch behalten, aufs Ganze gesehen sind das doch Lappalien.
»Nein, da ist er bestimmt nicht. Er arbeitet nur sonntags.«
»Hmm, wo könnte er dann sein?«
Sie kamen an eine rote Ampel, die wie frisch gewaschene Wäsche über der Kreuzung an einem Drahtseil schaukelte. Geradeaus endete die Straße auf dem Weideland einer wohlhabenden Familie, die eine Menge Land besaß und in Colorado lebte. Wenn man nach rechts abbog, kam man nach Kinnakee – ins Stadtzentrum, zur Schule. Links lag typisches Kansas-Farmland, und dort wohnten auch die beiden Freunde von Ben, die schüchternen Future Farmers of America, die es nicht über sich brachten, nach Ben zu fragen, wenn Patty das Telefon abnahm.
»Fahr nach links, wir schauen mal bei den Muehlers vorbei.«
»Hängt er immer noch mit denen rum? Das ist gut. Kein Mensch könnte auf die Idee kommen, dass diese Jungs etwas … etwas Verqueres tun.«
»Ach ja, aber bei Ben schon?«
Diane seufzte und bog nach links ab.
»Ich bin auf deiner Seite, Patty.«
Die Muehler-Brüder hatten sich als Kinder jedes Halloween als Farmer verkleidet und waren von ihren Eltern auf ihrem breiten Truck nach Kinnakee gefahren worden. Dort wurden sie auf der Bulhardt Avenue abgesetzt, wo sie mit ihren kleinen John-Deere-Baseballkappen und Latzhosen um die Häuser zogen und sich die üblichen Süßigkeiten erbettelten, während ihre Eltern im Diner einen Kaffee tranken. Genau wie ihre Eltern redeten die Muehler-Brüder von nichts anderem als von Alfalfa und Weizen, diskutierten übers Wetter und gingen am Sonntag in die Kirche, wo sie vermutlich für eine gute Ernte beteten. Die Muehlers waren rechtschaffene Menschen ohne die geringste Phantasie, und ihre Persönlichkeit war so untrennbar mit ihrem Land verbunden, dass selbst ihre Haut irgendwann die Rillen und Furchen von Kansas anzunehmen schien.
»Ich weiß.« Gerade in dem Moment, als Diane schaltete, streckte Patty die Hand aus, um sie zu berühren, zögerte dann aber und legte die Hand unverrichteter Dinge wieder in ihren Schoß zurück.
»Ach, du Vollidiot!«, beschimpfte Diane das Auto, das mit zwanzig Meilen pro Stunde vor ihr herkroch und absichtlich noch langsamer wurde, als sie dichter auffuhr. Sie scherte aus, um zu überholen, und Patty hielt den Blick starr nach vorn gerichtet, obwohl sie spürte, dass der Fahrer ihr sein Gesicht zuwandte, ein verhangener Mond am Rande ihres Blickfelds. Wer war dieser Mensch? Hatten die Insassen des Wagens schon gehört, was man sich über Ben erzählte? Glotzten diese Leute deshalb so, zeigten sie womöglich mit dem Finger auf Patty?
Das ist die Mutter von diesem Jungen
. Der Day-Junge. Wenn Diane die Geschichte gestern Abend gehört hatte, liefen heute Morgen bestimmt die Telefone in der Stadt heiß. Vermutlich saßen Pattys Töchter jetzt zu Hause vor dem Fernseher, hin- und hergerissen zwischen einem Zeichentrickfilm und dem
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