Dark Thrill - Zwei Romane in einem Band: Sommergeheimnisse/Idylle (German Edition)
Musik ab. Als wollte er seine gesa mte Gläubigenschar umfassen, breitete er die Arme aus und begann mit seiner Predigt.
»Liebe Gläubige, wir haben uns hier in Trauer ve rsammelt um Abschied zu nehmen...«
Manfred Klugmann konnte den Worten des Pfarrers nicht folgen. Aus unendlicher Fe rne drangen sie an seine Ohren, nicht mehr als unverständliches Flüstern und Gemurmel. Fast so, als hätte ihm jemand Watte hineingestopft. Und die wenigen Sprachfetzen, die er verstand, ergaben keinen Sinn für ihn. Die Augen brannten ihm, es fühlte sich an wie der ungeschützte Blick in die strahlende Sonne. Brennendes Stechen in den Netzhäuten. Und das, obwohl es in der Kirche unnatürlich finster war. Aufgrund des Gewitters und der Wolkendecke fielen keine Lichtstrahlen durch die verschiedenfarbigen Buntglasfenster, die Episoden aus den Leben von Heiligen darstellten. Diese »helle« Dunkelheit drückte auf sein Gemüt, verlieh Manfred das schon regelrecht zu physischer Realität gewordene Gefühl, von einer tonnenschweren Masse aus Kummer zerquetscht zu werden. Sein Blick war trüb, und das Bild, das sich ihm bot, hatte Ähnlichkeit mit jenem, wenn man durch eine regennasse Autoscheibe lugte, über die ein verschmutzter Scheibenwischer fuhr. Alles wirkte unklar, nicht scharf abgegrenzt.
»... war ein guter Mensch...«, hörte er mehr oder weniger verständlich den Priester sprechen.
Wer war ein guter Mensch? , fragte sich sein Verstand. Manfred hatte keine Ahnung, was er hier machte, geschweige denn wie er hergekommen war. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war... Er wusste es nicht. Seine Erinnerung war genauso verschwommen wie seine Wahrnehmung.
»... unsere Gedanken sind bei der Familie, begleiten sie in dieser schweren Zeit...«
Neben ihm schluchzte jemand. Es war eine Frau, etwa fünfunddreißig Jahre, blondes langes Haar. Die Augen verschwollen und rot vom Weinen. Es war... seine Frau!
Seine geliebte... Verzweifelt kramte er in seinem Gedäch tnis nach ihrem Namen. Er konnte sich keine Vorstellung machen, wie das geschehen konnte, aber irgendwie schien er in den Windungen seines Gehirns verloren gegangen zu sein. Carmen? Sybille? Nein, er schüttelte den Kopf. Irgendwas mit M. Maria? Wieder nichts. Miriam? Jetzt hatte er es! Melanie! Sie hieß Melanie!
Erst jetzt fielen ihm die beiden entzückenden Mädchen n eben ihr auf. Seine Töchter, Zwillinge. Jasmin und Sylvia. Aus irgendeinem unbekannten Grund machten ihm ihre Namen keine Schwierigkeiten.
Die beiden weinten zwar nicht, aber aus ihren himmelbla uen Augen strömte eine Traurigkeit in der Intensität des draußen niederfallenden Regens.
Hilflos blickte Manfred seine Familie an, wünschte, er kön nte ihnen helfen, tröstende Worte zusprechen. Doch dazu hätte er erst einmal wissen müssen, was hier vor sich ging. Wer war der oder die Tote im Sarg? Aus seiner oder der Familie seiner Frau konnte es niemand sein, denn die waren alle seit langer Zeit tot. Wer also dann? Wer stand ihnen so nahe, dessen Verlust solches Maß an Verzweiflung freisetzte?
Manfred wollte seiner Frau die Hand auf die Schulter legen, um sie zu trösten, zuckte aber sofort zurück, als se ine Finger den schwarzen Stoff berührten. Irgendetwas stimmte nicht, war vollkommen falsch. Die Berührung fühlte sich nicht real an. Er konnte es nicht erklären, aber genau so empfand er.
Überrascht blickte Melanie auf, sah ihm direkt in die A ugen. Manfred lächelte sie tröstlich an. Sie legte nur die Stirn in Falten und schüttelte kaum merklich und bedauerlich den Kopf. Er hatte den Eindruck, dass sie ihn gar nicht wahrgenommen hatte.
Ein eiskalter Schauder kroch irrationale Ängste ausl ösend sein Rückgrad empor. Suchend schaute er sich in der Kirche um, versuchte, ein Gesicht zu finden, das ihn anblickte. Die Mehrzahl der Trauergäste hatte den Kopf demütig gesenkt und lauschte den Worten des Pfarrers, andere starrten zum Altar. Aber niemand sah ihn an. Manfred war sich sicher, träte er in diesem Augenblick aus der Bank und legte einen Hulatanz hin, keiner hätte davon Notiz genommen.
Was zum Teufel war hier los?
»... lasset uns beten...«
Er wollte sich eben wieder dem Gottesdienst zuwenden, als ihm eine Gestalt ganz hi nten in der Kirche neben dem Weihwasserbecken auffiel. Der Mann trug einen schwarzen Anzug - passend zu diesem Anlass -, der ihm wie eine zweite Haut auf den Leib geschnitten schien. Keine Falten, keine Wölbungen. Das kurze aschblonde Haar war so
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