Dark Village 02 - Dreht euch nicht um
Werners Arbeitszimmer war oder das seiner Frau und wovon die beiden eigentlich lebten.
Werner saß auf einem knarrenden Holzstuhl am Küchen tisch, trank Kaffee und las ein dünnes Taschenbuch. Vorn auf dem Cover war eine Cowboy-Illustration.
Vor ein paar Tagen hätte Nick noch gedacht, dass er ein bösartiger und gefährlicher Kerl war, hinter dessen Neugier irgendein verborgenes Motiv steckte, aber jetzt sah er nur einen älteren, etwas erschöpften Mann mit freundlichen Augen und vorsichtigem Blick.
„Willst du Kaffee?“, fragte Werner.
„Nein danke.“
Nick trat unschlüssig auf der Stelle. Er räusperte sich. „Ist Eline da?“
„Ja sicher.“ Werner zeigte mit dem Daumen nach oben. „In ihrem Zimmer.“
„Okay. Ich geh mal zu ihr hoch.“ Nick drehte sich um, lief in den Flur und die Treppe hinauf. Elines Zimmertür war zu. Er hörte leise Musik und klopfte.
„Ja?“, kam Elines Stimme von drinnen.
„Ich bin’s, Nick.“
„Moment!“
Er hörte Schritte auf den Fußbodendielen, dann rief sie: „Kannst reinkommen!“
Er drückte die Klinke runter und machte die Tür auf. Sie saß mit dem Rücken zu ihm am Schreibtisch. Es sah aus, als ob sie etwas malte. Er reckte den Hals. Ein Bild. Eine neue Zeichnung. Kannst du mir helfen? , dachte er. Weißt du etwas?
Eline drehte sich zu ihm um. Sie schaute ihn mit sanften blauen Augen an. „Hab keine Angst. Es ist zu spät, um Angst zu haben.“
Er stand stocksteif in der Tür und starrte sie an, unfähig, etwas zu sagen. Ihm fiel auf, dass sie zu klein für den Stuhl war. Ihre Füße hingen in der Luft.
Eline war sieben und ging in die zweite Klasse. Sie war dünn und schmächtig und blass. Ihr langes, blondes Haar war zu einem strammen Pferdeschwanz gebunden.
Am liebsten hätte er das Haargummi abgezogen und ihr durch die Haare gewuschelt. Hätte sie zum Spielen mit nach draußen genommen und ihr zugerufen: Werde normal!
Aber er stand da und das Blut pochte in seinen Schläfen. Hab keine Angst …
Plötzlich glitt ein Schatten an seinem Gesicht vorbei. Er zuckte mit dem Kopf zurück. Etwas landete mit einem weichen Schmatzen auf dem Boden. Nick blickte nach unten – eine Spinne, eine große schwarze Gummispinne, so eine, die an der Wand kleben bleibt, wenn man sie dagegenwirft. Eline hatte sie über der Tür festgedrückt. Sie sollte ihm beim Hereinkommen auf den Kopf fallen.
„Biiiep“, machte Eline. „Sie hat dich erwischt. Du bist raus.“
Aber Eline lachte nicht. Sie lächelte nicht mal. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich einen Spaß erlaubt hatte. Sie saß da, dünner und blasser als jemals zuvor, und schwieg.
Es ist zu spät, um Angst zu haben …
Sie schauten sich an, und ihm war klar, dass sie Bescheid wusste. Er fragte nicht, er konnte nicht fragen: Weißt du, dass ich gerade einen Menschen umgebracht habe? Er blieb stumm dort auf der Türschwelle stehen und sie saß auf dem Stuhl und ließ die Beine baumeln.
Er wurde ärgerlich. Wut schoss in ihm hoch. Er ballte die Fäuste hinter dem Rücken. Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mich nicht gewarnt? Warum hast du mir nicht erzählt, was passieren wird, damit ich es verhindern kann? Du hättest zwei Menschenleben retten können – meins und ihrs!
Das neue Bild, das Eline gemalt hatte, lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Nick wollte es nicht sehen, für den Fall, dass … Er wollte es nicht wissen. Es spielte sowieso keine Rolle mehr.
Er log. „Bis später.“
Dann ging er in sein Zimmer und packte. Alles, was er hatte, fand Platz in einer mittelgroßen schwarzen Tasche.
6
Eine Welt voller Möglichkeiten war plötzlich weg. Die neue Nora verwandelte sich abrupt zurück in die alte. Nur war es jetzt schlimmer, die alte zu sein, weil sie verloren hatte.
Sie war so dicht davor gewesen, etwas zu erreichen, nur Mil limeter davon entfernt, mehr zu sein als Nora Mittelmaß , aber dann war es ihr aus den Händen geglitten. Sie hatte es nicht geschafft. Letztendlich war sie nicht die gewesen, mit der er zu sammen sein wollte. Selbstverständlich zog er Vilde vor!
Vilde war hübsch und schlank und lächelte wie Julia Roberts!
Sie dagegen, sie war breit und klein und plump und … Und sie hatte ihre Chance vertan! Sie hätte mehr aus sich machen müssen, hätte besser werden und irgendwas Besonderes tun sollen! Aber nein, sie hatte sich damit zufriedengegeben, Nora zu sein, Nora, die einen Freund hat. Einen heimlichen Freund zwar, aber immerhin – einen Freund.
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