DARKNET
aufgebläht. Sie fällten die Bäume und dehnten das landwirtschaftlich nutzbare Land durch Bewässerungsanlagen aus. Bis schließlich keine Bäume mehr da waren. Und der Mutterboden weggespült wurde. Und als dann Dürrezeiten kamen, zerfiel ihre hochgradig zentralisierte Gesellschaft binnen weniger Jahre durch blutige Auseinandersetzungen.»
Sobol trat an den Rand der jetzt wieder kalten Feuergrube und stocherte mit seinem Phantomspazierstock darin herum. «Statt sich an die veränderte Situation anzupassen, klammerten sich ihre Anführer an die Macht und waren nur bestrebt, als Letzte zu verhungern. Die Zivilisation der Maya in Mittelamerika machte es genauso, und ich rechne damit, dass auch unsere Zivilisation es so machen wird. Die Leute hinter der modernen globalisierten Ökonomie werden jede sinnvolle Veränderung verhindern, bis es zu spät ist.»
Der Avatar sah Sebeck an. «Aber die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, ob die Unfähigkeit von Zivilisationen, sich anzupassen, auf dem Versagen ihrer Führer beruht oder ob der Menschheit insgesamt die Bereitschaft dazu fehlt.
Ihre Aufgabe – oder sagen wir besser: ihre Quest – erfolgt in einem kritischen Moment der Menschheitsgeschichte, Sergeant. Es ist Zeit herauszufinden, ob eine dauerhafte Demokratie möglich ist – eine, deren Gesetze mehr sind als nur Richtlinien. Eine, in der die Rechte der Einzelnen nicht von den Mächtigen missachtet werden können. Diesen Nachweis zu erbringen, überlasse ich Ihnen. Der Daemon wird sich in jedem Fall weiterverbreiten. Ob er als eine verteilte Demokratie funktioniert oder als eine rücksichtslose Hierarchie, liegt bei Leuten wie Ihnen. Wenn Sie beweisen können, dass der kollektive menschliche Wille die Selbstzerstörung verhindern kann, dann haben Sie die Freiheit der Menschen gerechtfertigt. Wenn Sie es nicht können, wird die Menschheit dem Daemon dienen.
Und damit alle anderen Sie erkennen können …» Sobol zeigte mit seinem Spazierstock auf Sebecks D-Raum-Callout, und neben Sebecks Netzwerknamen erschien ein Icon. Es war eine hoch aufgetürmte Wolke, in der sich unten eine torartige Öffnung befand. «Dieses Quest-Icon wird Ihr Zeichen sein. Ihre hohe Quest ist es, das Wolkentor zu finden. Sie haben sie erfolgreich beendet, wenn Sie diesen Torbogen passieren.»
Sobol hob die andere Hand, und ein neuer glimmender Thread kam daraus hervor und zog sich blitzschnell zum südlichen Horizont. «Ihr Weg führt nicht durchs Land, sondern durch Geschehnisse, die die Menschen betreffen. Er wird sie immer ins Herz der gegenwärtigen Veränderungen führen. Und solange Ihnen nicht andere vorangehen, werden Sie nie ans Ziel Ihrer Reise gelangen.»
Sobol sah Sebeck in die Augen. «Viel Glück, Sergeant. Um künftiger Generationen willen hoffe ich, dass wir uns wiedersehen.»
Damit verschwand Sobol, und zurück blieb nur der neue Thread.
Sebeck fühlte sich benommen. Das war eine gewaltige Bürde. Er drehte sich zu Price um.
Price starrte das Hohe-Quest-Icon an, das jetzt Sebecks Callout zierte. «Mann, Sie Glückspilz …»
5 Einsichten
Sebeck ging durchs Gedränge einer nahegelegenen Shopping-Mall. Überall händchenhaltende Paare mit Handy am Ohr und simsende Teenager. Die Mall wirkte neu. Bekannte Magnetmieter und dazwischen die üblichen Geschäfte.
Price hatte er im Hotel abgehängt. Er brauchte ein bisschen Abstand. Zeit zum Nachdenken. In der Menge unterzutauchen fühlte sich gut an – auch wenn er den neuen Thread trotzdem sah. Er leuchtete immer drei Meter vor ihm auf, rief ihn.
Er versuchte den Thread und die Quest zu vergessen und nur entgegenkommende Gesichter zu studieren. Eine Parade ganz normaler, banaler Sorgen, Interessen und Anliegen. Als ob es den Daemon gar nicht gäbe.
Doch dann sah Sebeck ein vertrautes Callout auf sich zuschweben, und gleich darauf spülte der Menschenstrom Laney Price heran. Sie standen sich in dem Gewoge gegenüber. Price mampfte einen Churro. Gesprächsfetzen drifteten vorbei und verloren sich.
«Kleine private Auszeit genommen?»
Sebeck schob sich an ihm vorbei. «Wo hat der Daemon Sie aufgegabelt, Laney?»
Price heftete sich an seine Seite. «Ähnliche Situation wie bei Ihnen. Das Leben schmeißt einen an irgendeiner Kreuzung raus, und eh man sichs versieht – zack! –, dient man einem weltumspannenden kybernetischen Organismus. Immer die gleiche Geschichte.»
Price merkte, dass Sebeck ihm gar nicht zuhörte. «Tröstet Sie das, die ganzen
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