Darkons Tod
Hintergrund kaum abhob. Die beiden Meisterdiebe nutzten ihre Chance, aus der Not eine Tugend zu machen. Carlumen würde nur wenige Mannslängen entfernt an ihnen vorübertreiben. Sich eng an die Bordwand duckend, benutzten sie die Ruder nur, um ihr Boot längsgehen zu lassen. Trotz der voll geblähten Segel hatten sie die aus dem Heck der fliegenden Stadt herausragenden Vorsprünge entdeckt, die für ihr Vorhaben wie geschaffen schienen.
Mit einigen im Boot gefundenen Seilen zerrten Orgin und Possel ihr Gefährt fest – gerade so, daß es nicht abtreiben konnte, sie aber auch keine Mühe haben würden, die Knoten blitzschnell wieder zu lösen. Dann kletterten sie an der Schwammscholle empor, die griffig genug war, ihnen sicheren Halt zu geben. In Anagon hatten sie schon weit Gefährlicheres hinter sich gebracht, allein als sie an der Außenmauer des dreißig Mannslängen hohen Stadtturms bis zu dessen Zinnen hinaufgehangelt waren, um einem der reichsten Kaufleute wenigstens einige Scheffel seiner Schätze abzunehmen.
Staunend blickten sie auf das sich gleichmäßig bewegende große Schwungrad. Von da aus wanderten ihre Blicke über die Wehr und weiter über die sich vor ihnen auftuende phantastisch anmutende Stadt.
Dies also war Carlumen. Nach den Ereignissen auf der Dämonenleiter vor vielen Monden hätten sie nie geglaubt, ihr Ziel doch noch zu erreichen. Joby mußte sie für tot halten, er würde Augen machen, wenn sie urplötzlich vor ihm standen.
»Wie finden wir den Jungen?« fragte Orgin und schreckte Possel damit aus dessen Überlegungen auf.
»Was weiß ich. Hier laufen so viele Männlein und Weiblein durcheinander, daß wir beide kaum auffallen dürften.«
»Bei Quyl, hoffentlich hast du recht.«
Als sie sicher sein konnten, unentdeckt zu bleiben, schwangen sie sich über die Wehr. Ob Carlumen noch jene sagenhaften Schätze besaß, von denen sie einst gehört hatten? In dem Stadtstaat auf Gorgan, aus dem sie kamen, gehörte alles jedem, zumindest den Geschicktesten, Trickreichsten und Klügsten, die es verstanden, lange Finger zu machen. Aber mittlerweile war diese Frage nebensächlich geworden. Die Götter mochten wissen, was im Todesstern mit ihnen geschehen war, jedenfalls erfüllte der Gedanke an Gold und Silber sie nicht mehr mit jenem heißblütigen Verlangen, mit dem sie seinerzeit aufgebrochen waren.
»Wir werden alt«, meinte Orgin niedergeschlagen. »Wahrscheinlich sollten wir uns ein Stück Land suchen, auf dem wir Mais anbauen können.«
In den engen, winkligen Gassen fühlten sie sich wohl. Das war fast wie daheim in Anagon. Aus einer Zisterne, an der sie vorbeikamen, schöpften sie frisches, kristallklares Wasser, und niemand hinderte sie daran oder störte sich an ihrem Aussehen. Vielleicht war das sonst anders. Die sich verändernde Umgebung schien die Leute zu verwirren.
Possel stellte sich einem Mann in den Weg, dessen Heimat irgendwo in der Düsterzone liegen mußte. Zumindest seine gebleichte und wie gegerbt wirkende Haut verriet, daß er über lange Zeit hinweg die lebensspendenen Strahlen der Sonne vermißt hatte.
»Kannst du mir sagen, wo ich Joby finde?«
»Wen?«
»Ein kleines, rothaariges Bürschchen mit Sommersprossen, ungefähr zwölf Sommer alt.«
»Ich weißt nicht.« Der Mann streckte einen Arm aus und deutete in Richtung Bug. »Du solltest Tertish fragen, die weiß bestimmt Bescheid.«
»Nicht gerade vielversprechend«, bemerkte Orgin, als der Carlumer längst zwischen den Gebäuden verschwunden war. »Was machen wir nun?«
Possel zuckte mit den Schultern.
»Einfach der Nase nach, würde ich sagen. Das Glück sucht sich auf Dauer nur den Tüchtigen als Begleiter. Immerhin hat noch niemand festgestellt, daß wir nicht auf Carlumen gehören.«
Während der nächsten Stunden streiften die beiden kreuz und quer durch die Stadt, ohne jedoch das geringste über Jobys Aufenthaltsort zu erfahren. Wohlweislich gingen sie den gerüsteten Amazonen stets aus dem Weg. Sie entdeckten einen üppig wuchernden Garten mit den Resten eines Salzbeckens und verschiedenen Wasserstellen und betrachteten fasziniert den gut fünf Mannslängen durchmessenden Wurzelstock des Lebensbaums. Gehört hatten sie schon des öfteren von diesen wahren Riesen, jedoch nie selbst einen der Bäume gesehen. In Leone sollte einer reichlich Frucht tragen – Leone, das war eine kleine Enklave in Nord-Salamos, die sich bis vor gut einem Jahr noch gegen den Einfall der Caer hatte behaupten
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