Darkover 04 - Der Untergang von Neskaya
Straßenbengel wollte ihm seine Brieftasche klauen. Coryn packte die kleine Hand, als sie danach griff. Der Junge wurde stocksteif. Schwarze Knopfaugen blickten unter einem Haarschopf hervor, der so verfilzt und verdreckt war, dass man seine ursprüngliche Farbe nur noch schätzen konnte. Die Handgelenkknochen waren schmal und zerbrechlich. Coryn ging eine Anzahl jäher Gefühle auf - Zorn, Furcht… Hunger.
»Ich bin neu in der Stadt und suche einen Führer«, sagte er im Plauderton. »Kennst du jemanden, der sich gern ein paar Reis verdienen würde?«
»Wenn Sie ’nen Führer suchen, bin ich der Richtige«, zirpte der Straßenjunge. »Zehn Reis, alles im Voraus. Egal, wo Se hinwollen.«
Coryn ließ den Jungen mit einem Lächeln los. »Zwei, für den Abend. Ein Gasthaus mit anständigem Essen und guten Informationen.«
»Schlagen Se noch ne Mahlzeit drauf?«
»Gebongt!«
Der Junge führte ihn durch verschlungene Gassen und ein oder zwei Straßen bewusst im Kreis herum, damit ein verwirrter Fremder bereit wäre, das Doppelte zu bezahlen, um seinen Weg zurück zu finden. Coryn hatte schon immer einen guten Orientierungssinn gehabt, und seine Zeit in Neskaya hatte ihn mit Stadtlandschaften vertraut gemacht. Er würde keine Probleme haben, den Weg zurück zur Burg zu finden, war sich jedoch nicht sicher, ob er das den Jungen wissen lassen sollte. Das Abenteuer des Augenblicks war einfach zu verlockend.
Zwei Männer in zusammengestückelter Lederrüstung beobachteten sie von einem Türeingang aus, als sie sich näherten.
Einer machte einen Schritt auf die dunkler werdende Gasse hinaus, die Hand auf einem abgewetzten Schwertknauf. Coryn fing von einem ein Flackern halb ausgeprägten Larans auf und antwortete mit beruhigenden Schwingungen, die Harmlosigkeit ausstrahlten.
»Tja, mein Junge«, sagte er zu dem Straßenbengel, »du würdest mich doch nicht in eine Diebeshöhle führen, oder?«
»O nein, Sire! Zur Zeit sind nur alle sehr nervös. Es scheint sich ’n Krieg zusammenzubrauen.«
»Ein Krieg?« Coryn versuchte ahnungslos zu klingen. »Was für ein Krieg denn?«
»Kann ich nich sagen, ich nich, echt.«
Coryn blieb stehen und machte eine Geste, als wollte er sich abwenden. »Dann sollte ich vielleicht jemanden fragen, der schon erwachsen ist. Vielleicht unsere Freunde da drüben?«
Der Junge ergriff seine Hände und zog ihn weiter die Straße entlang. »Mit denen sollte man sich nich anlegen. Suchen wir uns lieber ’ne Kneipe.«
Innerhalb von Minuten betraten sie ein Gasthaus, das äußerlich einem Bordell glich und schon bessere Zeiten gesehen hatte.
In einer Ecke stand ein zerschrammter Holztisch. Coryn setzte sich mit dem Rücken zur Wand und Blickrichtung zur Tür und trank einen Krug Ale, dessen bitterer Geschmack seine zweifelhafte Herkunft Lügen strafte, während der Straßenjunge seine zweite Schale mit Eintopf hinunterschlang. Von diesem vorteilhaften Platz aus konnte er Gesprächsfetzen der Passanten auf der Straße aufschnappen. Er war als Telepath nicht gut genug, um Gedanken auffangen zu können, selbst wenn seine jahrelange Ausbildung in Turmethik es gestattet hätte.
Unter der Angst, die zu erwarten gewesen war, spürte er noch tiefere Gefühle. Es gab keinen Groll gegen den Hastur-König, weil er die Stadt und die umliegenden Ländereien an den Rand eines Krieges gebracht hatte, der noch nicht offiziell erklärt war. Er erinnerte sich, wie die Leute auf der Straße vor seinem roten Haar zurückgeschreckt waren, die Mütter ihre Kinder fortgezogen hatten, und an die Flüstereien und verstohlenen Blicke.
Laranzu… Zauberer. Angst?
»Also«, sagte der Junge und wischte sich seine fettverschmierten Lippen an einem zerrissenen Ärmel ab, »was wollen Se denn wissen?«
»Ich war lange Zeit auf Reisen und habe nicht viel mitbekommen. Wer wagt es, gegen Hastur Krieg zu führen?«
»Oh, er hat den Trubel veranstaltet, nich dass die andern es nich verdient hätten. Offenbar hat der König sich in den Kopf gesetzt, ’n Baby über ein Land herrschen zu lassen, das der alte Eidbrecher für sich ham will. Oder vielleicht is es auch andersrum, aber was macht das schon für nen Unterschied. Kein Wunder, dass er da nich drauf steht! Sagen Se selbst! Ein Baby als König! Was wird das schon bringen? ’n bisschen an der Krone rumfummeln!« Der Junge wieherte über seinen eigenen Witz.
»Bestimmt wird ein Regent eingesetzt«, sagte Coryn behutsam.
»Wie wär’s mit noch nem Eintopf?«
Coryn
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